ROGER MIRET mit Jon Wiederhorn: UNITED & STRONG: NEW YORK HARDCORE – MEIN LEBEN MIT AGNOSTIC FRONT (Buch, IRON PAGES 2018)

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ROGER MIRET

 

Dieses Buch ist mal harter Tobak! Die Gewalt, der Roger Miret in seiner Kindheit und Jugend ausgesetzt ist, wird sehr explizit geschildert. Somit würde ich das Buch nicht uneingeschränkt für jede:n empfehlen.

 

Aber diese Schilderungen müssen wohl sein. Ich zumindest habe dadurch vieles um Roger Miret und AGNOSTIC FRONT herum erst richtig erfassen können. Man macht sich als privilegierter Europäer ja gern lustig über so manches NYHC-Klischee und fragt sich, warum z.B. der Begriff „Unity“ in den Texten derart strapaziert wird. 

 

Durch „United & Strong“ wird dies aber relativiert. Denn AGNOSTIC FRONT und die frühe Hardcore/Punk-Szene werden immer wieder mit gewalttätigen Straßengangs assoziiert, was die Band zunächst selbst nicht versteht. Erst als sie 1985 in Los Angeles spielen, wird ihnen klar, dass die südkalifornische Hardcore-Szene sich anders definiert: „Jedes Konzert war eine Schlacht zwischen verschiedenen Gangs. Zu den bekannteren Banden gehörten die LADS, die Suicidals, die United Crew Skinheads und Circle One. Zudem gab es auch noch Splittergruppen innerhalb dieser Gangs, die sich intern befehdeten. Das reinste Chaos.“ (S. 125) Wenn man sich diese Zustände vor Augen hält, ehrt es Roger Miret, dass er sich gegen das Chaos stellt und die Hardcore-Szene einen und gegen White-Power-Schwachmaten abgrenzen möchte. 

 

Der Weg dahin ist lang, die Entwicklung dauert Jahrzehnte. Als Roger Miret vier Jahre alt ist, flieht seine Familie von Kuba in die USA. Sein Vater verprügelt die ganze Familie, bis sich die Mutter von ihm trennt. Doch der folgende Partner, Rogers Stiefvater, ist ein noch größerer Drecksack. Man mag es kaum glauben, was Miret da alles schildert. Die Gewaltexzesse gipfeln schließlich darin, dass der Stiefvater den späteren AF-Shouter mit einem Hammer malträtiert und dabei fast umbringt. Aber der Kreislauf aus Gewalt, Armut und Außenseitertum erklärt natürlich auch, warum AGNOSTIC FRONT später in derart viel Krawalle verwickelt sind. Man kann beim Lesen wiederholt nur mit dem Kopf schütteln, aus was für nichtigen Gründen sich die Bandmitglieder auch untereinander ständig prügeln.     

  

Was für eine Galgenvögel-Combo! Als AGNOSTIC FRONT „Live at CBGB“ aufnehmen, erzählt Miret den anderen gar nicht erst davon, dass der Auftritt mitgeschnitten wird, damit die Band so natürlich wie möglich agiert. Vinnie Stigma springt natürlich mehr herum, als das er spielt. Die Plattenfirma ist genervt, will Stigma rauswerfen und beruft ein Treffen ein. Doch Stigmas Mutter (!) bekommt Wind davon und ist sauer: “Sie forderte einen ‘Gefallen’ ein und beschaffte neue Manager, die uns begleiten und das Label aufmischen sollten. Zwei Mafiosi aus Jersey wurden dafür ausgewählt. (…) Paulie und Sal kamen im Anzug und sahen aus wie richtige Gangster. Ich bin überzeugt, dass sie wussten, wie man eine Leiche loswurde, aber vom Musikgeschäft hatten sie null Ahnung. Während des Treffens streckten sie ständig den Brustkorb vor und ließen den Macho raushängen. Sie nannten das Label ‘Realistic‘ statt ‘Relativity‘, und sie erzählten dem Label-Manager, dass sie Großes mit uns vorhätten.“ (S. 222)

  

Obwohl Miret sich lange immer wieder in haarsträubenden Situationen irgendwie durchwurstelt, landet er schließlich 1989 wegen Drogenhandel für 18 Monate im Knast. Dieser Abschnitt des Buches ist allein schon die Lektüre wert.

  

Insgesamt zeigt sich Roger Miret in dieser Autobiographie reflektiert und verurteilt viele seiner Handlungen im Nachhinein. Es war auch eine gute Idee, mit Jon Wiederhorn einen erfahrenen Schreiber dazuzuholen, der sicherlich für den guten Flow mitverantwortlich ist. 

 

Für AF-Hörer:innen lohnt sich die Lektüre definitiv, werden doch so einige Fragen geklärt. So erfährt man zum Beispiel, was nach der 1990er Tour mit dem schnauzbärtigen Roadie passiert ist, der statt Roger Miret gesungen hat, wie die Band zu ihrem Deal mit Nuclear Blast gekommen ist oder wie sich das Verhältnis zu Mirets Bruder Freddy Cricien (MADBALL) entwickelt hat.

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BLUT & SCHWEIß; SICK OF IT ALL - Die Geschichte der KOLLER-BRÜDER (Buch, IRON PAGES 2021)

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SICK OF IT ALL

Und wieder haben IRON PAGES ein Highlight für Rock’n’Roll-Leseratten veröffentlicht (demnächst erscheint übrigens die DIO-Autobiografie).

Die im Gegensatz zu etwa Biff Byfords Buch gelungene Übersetzung und Lektoratsarbeit bringt den Spirit des Hardcore-Brüderpaars treffend rüber. Aus über drei Jahrzehnten Bandgeschichte kann hier aus dem Vollen geschöpft werden. Das Buch ist dabei insofern im Interview-Stil verfasst, als dass es Kapitel und Themen wie „Kindheits-Koller“, „Cool, noch mehr Konzerte!“ oder „Die Jahre bei Century Media“ gibt, zu denen sich Lou und Pete abwechselnd äußern. Andere Bandmitglieder, Musiker, Familienmitglieder etc. kommen ebenfalls zu Wort. So bekommt man das Gefühl, ein sehr ausführliches SICK OF IT ALL-Special in einem Fanzine zu lesen. Die 270 Seiten flutschen gut rein, für mich hätte das Ding gern noch ausführlicher ausfallen können.

Aber mein positives Bild der Band wird hier bestätigt und vertieft. Schon das Vorwort von Chris Carrabba zeigt eine typische Eigenschaft der Koller-Brüder – sie hören zu und sind interessiert. Carrabba schildert hier, wie er zu Highschool-Zeiten mit seiner damaligen Band für SICK OF IT ALL als Vorgruppe fungieren sollte. Doch Drummer und Bassist seiner Band tauchen gar nicht erst bei der Venue auf! Der Rest der Band spielt kurzerhand ein gefühlt schreckliches Konzert zu zweit. „Als wir von der Bühne gingen, kam Lou Koller auf mich zu und fragte, was los sei. Ich sagte: ‚Der Rest der Band ist einfach nicht aufgetaucht.‘ Darauf er: ‚Und ihr seid trotzdem aufgetreten?‘ Ich erläuterte ihm nicht weiter, dass es für unsere aufstrebende Band in unserer unbeständigen und politischen Musikszene dabei ums Ganze gegangen war, und sagte nur: ‚Nun, ja.‘ Worauf er antwortete: ‚IST JA FANTASTISCH!‘“ (S.6). Genau so habe die Band persönlich auch erlebt, als ich sie auf dem 2005er Wilwarin ansagen durfte. Ich fragte sie, ob wir das Publikum kurz über den Stand des Trubels um die Alte Meierei informieren dürften und sie fragten sehr interessiert nach und wir hatten einen kurzen, aber aufbauenden Austausch.

Dass die Band jeden Auftritt lebt und liebt, ist ohnehin klar. Das Buch zeigt, wie die beiden sich musikalisch sozialisieren, wie sie ihr Arbeitsethos definieren und wie sie sich in jeder noch so beschissenen Situation ihren Humor bewahren. Dabei werden Konzerte vor wenigen Zuschauer:innen, üble Schlägereien mit Nazis oder eigenes Fehlverhalten nicht ausgeblendet. Was ich beeindruckend und sympathisch finde: Ohne dass Lou und Pete Koller eine Art intellektuelle politische Schule durchlaufen haben oder sich explizit zu einer bekennen, lässt sich eindeutig herauslesen, wie ihr Handeln von zutiefst menschlichen Werten geprägt ist. Rassismus, Machotum, jegliche Diskriminierung finden in der SOIA-Welt keinen Platz. Und musikalisch gibt es bei den Kollers keine Scheuklappen, was sich anhand der Schilderungen von Auftritten und Touren mit u.a. EXODUS, SLAYER, NAPALM DEATH, SEPULTURA oder D.R.I. zeigt. Letztendlich sind beide totale Musikfreaks, die sich wie kleine Kinder über Begegnungen mit Dee Snider oder Jimmy Page freuen.

Klar, lebensverändernde Weisheiten enthält auch diese Musikerautobiografie nicht unbedingt, aber ich habe die Lektüre ganz klar als Gewinn empfunden und ballere mich gerade durch die SOIA-Diskografie, die man doch wieder mit anderen Ohren hört bzw. mit dem Hintergrundwissen um bestimmte Produktionen auf andere Details achtet.

Bewertung: 5 / 5

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„MAYHEM LIVE IN LEIPZIG – WIE ICH DEN BLACK METAL NACH OSTDEUTSCHLAND BRACHTE“, Abo Alsleben (Buch, Bookra Verlag 2020)

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ABO ALSLEBEN

 

Im Jahre 1990 organisierte der spätere Herausgeber des feinen CADAVER, COPRSE & BOWELS-Fanzines Abo Alsleben drei Konzerte der norwegischen Black-Metal-Band MAYHEM in der Ex-DDR und begleitete die Band auf Tour. „Pff, 30 Jahre her und dann liefert der Kerl nur 150 Seiten!“, höre ich schon die Nörgler*innen unter euch. Aber hey, Goethe hat 60 Jahre an seinem „Faust“ geschrieben und so viel dicker ist der auch nicht.

Bewertung: 5 / 5

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ROB HALFORD – „CONFESS“ (Buch, Headline Publishing Group 2020)

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ROB HALFORD

 

Es hat ein paar Jahre gedauert, bis Rob Halford seine Autobiografie vollendet hat. Das Warten hat sich mehr als gelohnt, denn bei „Confess“ handelt es sich um überdurchschnittlich gelungene Musikermemoiren.

 

Für einen Fan ist es in der Regel schon interessant, Hintergründe aus erster Hand zu den Aufnahmen von Alben zu erfahren, die man seit langem liebt. Aber Halford geht weit darüber hinaus, das Buch dürfte auch Leser*innen fesseln, die sich nur selten JUDAS PRIEST anhören (ich wollte nicht „nie“ schreiben, denn allein die Vorstellung eines Lebens ohne Priest bereitet mir Magenschmerzen).

 

Ohne Pathos, mit viel Selbstreflektion und einer herrlichen Ladung trockenen britischen Humors erzählt Rob Halford von seiner jahrzehntelangen Karriere, die ihm einerseits musikalische Erfüllung und Erfolg brachte, ihn aber auch bis in die Neunziger hinein seine sexuelle Orientierung hat verleugnen lassen.

Bewertung: 5 / 5

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„TODESSEHNSUCHT – ALS DER DEATH METAL NACH DEUTSCHLAND KAM“ (Buch, Seven Metal Inches Records 2020)

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 Todessehnsucht

Wer seine Lektüre gern HEAVY mag, liegt mit diesem 424 Seiten umfassenden Schmöker im doppelten Sinne goldrichtig. Ähnlich wie bei Tom Gabriel Fischers „Only Death Is Real“ kommt gleich beim Erstkontakt dieses Backsteinfeeling auf, geil.

Der Autor Andreas Hertkorn hat für „Todessehnsucht“ 130 Death-Metal-Urgesteine befragt, den Zeichner Axel Hermann (-> MORGOTH – „Resurrection Absurd“, ASPHYX – „Last One On Earth“ & „Crush The Cenotaph“, UNLEASHED – „Where No Life Dwells“, GRAVE – „You’ll Never See…” usw.) ein Cover im Stil und mit den Materialien der frühen 90er schaffen lassen sowie unzählige Bilddokumente angehäuft. (Witzigerweise ist auch von meinen auf Facebook geposteten Konzertkarten das Ticket der POSSESSED/VOIVOD/DEATHROW-Show in der Hamburger Markthalle 1986 im Buch gelandet, cool!)  

„Todessehnsucht“ ist keine Enzyklopädie, welche etwa alle deutschen Death-Metal-Tonträger auflistet und reviewt. Der Autor geht vielmehr der Frage nach, wie sich die deutsche Death-Metal-Szene seit Mitte der 80er (bis Anfang der 90er) Jahre entwickelt hat. Da ist es natürlich u.a. interessant, zu beleuchten, warum Deutschland recht schnell zum wichtigsten „Markt“ für dieses Genre werden konnte, gleichzeitig jedoch nur sehr wenige deutsche Bands internationalen Status erlangen konnten (eigentlich nur MORGOTH und ATROCITY), während der Thrash wesentlich mehr deutsche Protagonisten hervorgebracht hat. Deshalb kommen neben zahlreichen deutschen Musiker*innen, Fans, Fanzines, Plattenfirmenmenschen auch Freaks aus aller Welt zu Wort, die ihre Erfahrungen auf Konzerten, Festivals und Tourneen in Deutschland zum Besten geben.

Das Ergebnis dürfte sicher für mehrere Generationen Metalheads interessant sein, nicht nur für Zeitzeugen (wie mich), die das Ganze von Anfang an miterlebt haben, sondern auch für jüngere, später Geborene. Spannend finde ich zum Beispiel, dass mehrere Musiker darin übereinstimmen, dass die Hemmschwelle für das Gründen einer räudigen Death-Metal-Band geringer gewesen sei als für die einer klassischen Metalcombo mit aufwändigen Soli und Sirenengesang. „Uns war klar, dass wir nicht in der Lage gewesen wären, so was wie ACCEPT oder IRON MAIDEN auf die Beine zu stellen, aber gegen VENOM glaubten wir ‚anstinken‘ zu können“ (Uli Hildenbrand, POISON, S. 28). Der Weg zum dann doch technisch zum Teil extrem anspruchsvollen Death Metal wird in der Folge natürlich auch nachvollzogen. Deutlich wird aber, dass viele Strukturen aus dem Punk/D.I.Y.-Bereich kamen und in der Gründerzeit dieses Stils viele Veranstaltungen in Jugendzentren und besetzten Häusern stattfanden, bevor die Sache größer wurde und in diesen Multi-Package-Touren mit über 1000 Besucher*innen Anfang der Neunziger gipfelte.

Warum nun nur so wenige deutsche Bands einen Status wie DEATH, MORBID ANGEL, ENTOMBED etc. erreichten, kann nicht völlig eindeutig geklärt werden, wie so häufig sehen viele der Befragten aber eine Ursache (zu Recht, denke ich) im typisch deutschen Sicherheitsdenken, eben nicht wie diverse US- oder Schwedenbands alles auf eine Karte zu setzen.

Die Lektüre macht auf jeden Fall großen Spaß, bringt diverse interessante Aspekte, aber auch amüsante Anekdoten zur Sprache und hat immer wieder Flashbacks zur Folge. Ich habe häufig nebenbei Tonträger von GOLEM, LEMMING PROJECT, PROTECTOR, TORCHURE, DARK MILLENIUM, POISON, ENTRAILS MASSACRE etc. aufgelegt und alte Fanzines wie CADAVER, CORPSE & BOWELS, TALES FROM THE DARKSIDE, CHAOS, BATTLEFIELD, METAL PROPHECY, TOTENTANZ, FINAL HOLOCAUST, CARNAGE usw. herausgekramt. Da entdeckt man vieles in der eigenen Sammlung wieder und bekommt auch ein paar Tipps und Reminder zur Schließung etwaiger Lücken.

Zwei Auflagen sind wohl schon ausverkauft, eine dritte kommt offenbar demnächst. 

https://sevenmetalinchesrecords.bigcartel.com/product/todessehnsucht-buch    

Ticket_Possessed

Ein wenig Wolter steckt auch in "Todessehnsucht". 

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