ENDSTILLE, ARROGANZ, VERHEERER, FLAGRAS / 11.10.2025 – Kiel, Räucherei
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- Kategorie: Berichte aus dem Pit
- Veröffentlicht: Dienstag, 21. Oktober 2025 14:57
- Geschrieben von Philipp Wolter
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25 Jahre ENDSTILLE! Das ist eine amtliche Zahl, dafür vorab schon mal Glückwusch zum Jubiläum und Respekt für diese Leistung! In dieser Zeit waren ENDSTILLE schließlich extrem aktiv, haben neun Alben und zwei Split-LPs veröffentlicht und dürften eine der bekanntesten Bands aus Kiel sein, denkt man an internationales Touring, Auftritte auf den Wacken-Hauptbühnen (allein sechs davon werden in der DreMu-Datenbank reviewt) und Plattenverkäufe. Ich weiß noch, wie ich als Teenager ein Shirt mit der Aufschrift „10 years of SAXON“ sah und völlig geflasht von der Vorstellung war, dass eine Band unfassliche zehn Jahre existieren könne! Klar war mir damals bekannt, dass Rock’n’Roll-Urviecher wie die STONES schon länger rumkreuchten, aber das war mir als Metalpunk herzlich egal (ist heute anders). Ist das Phänomen der subjektiven Zeitwahrnehmung nicht abgefahren? 2005 waren SAXON dann auf „25 years NWBOHM-Tour“ und ein Review davon befindet sich ebenfalls bereits auf dieser Seite, die wiederum selbst jetzt auch schon seit 22 (!) Jahren existiert. Und nun sind SAXON bei 50 Jahren angelangt und ENDSTILLE bei 25. Obwohl der oben beschriebene Anblick des Shirts mir wie „war doch erst gestern“ erscheint, die Gründung von ENDSTILLE erst recht. Da wird man doch bekloppt! Ich habe über das Vergehen der Zeit kürzlich übrigens einen SPIEGEL-Artikel gelesen, in dem neuwissenschaftlich erklärt wird, dass routinemäßig wiederkehrende Aktivitäten in einer Art Zeitraffereindruck vom Gehirn abgespeichert werden. Nur fundamental neue und intensive Erfahrungen würden demnach unser zeitliches Empfinden dehnen. Wie geht wohl der heutige Abend in mein Gedächtnis ein? Ist es eine neue und intensive Erfahrung oder „nur“ das x-te ENDSTILLE-Konzert?
Bilder von MJ.
Eigentlich fürs Review unwichtig, aber doch irgendwie erwähnenswert. Um genau ein Jahr älter als ENDSTILLE sind die Kieler TYPHOON MOTOR DUDES. Und genau die nehmen gerade im Bunker neben der Räucherei (BOAH-Studio von JoyBoy) ihre neue Platte auf. Wir sind zum finalen Chor-Einschmettern geladen und legen ca. um 14:00 Uhr los. Bis 19:00 Uhr dauert der Spaß, es ist viel Bier im Spiel und so fühlen wir uns gegen 19:00 Uhr eher wie nach einem Konzert. Die Platte wird aber ein Killer, das darf ich verraten! Jedenfalls müssen wir noch dringend einen Döner-Zwischenstopp einlegen, sonst wäre das heute nicht bis zu ENDSTILLE gutgegangen.
FLAGRAS verpassen wir daher nahezu komplett, weshalb es auch kein Foto gibt. Während andere noch rauchen und sozialisieren, drängle ich schon mal hinein und sehe immerhin noch den Schluss mit ein, zwei Songs. Als erstes fällt mir auf: Verdammt dunkel hier. Soll wohl so ein. Sorgt allerdings im Verlauf des Abends für Überraschungen, da man plötzlich über Leute stolpert, die aus Erschöpfung oder Crowdsurf-Unfall am Boden herumliegen. FLAGRAS haben sich aus meiner Sicht gehörig gesteigert – die Verbindung aus Atmosphäre, Geballer, dem Einsatz mehrerer Stimmen und der fiebrigen Gitarrenarbeit erzeugt ein schlüssiges Ganzes. Roh und gleichzeitig hymnisch erhaben.
Wow, VERHEERER läuten ihren Auftritt mit der antifaschistischen Hymne „Bella ciao“ als Intro ein. Das ist mal ein Statement in Zeiten, in denen immer mehr Lappen rumheulen, dass Politik im Metal „nichts zu suchen“ habe und den Heile-Welt-Musikgenuss störe. Fuck that shit! VERHEERER zeigen ja auch auf ihrer aktuellen Scheibe „Urgewalt“, was sie von Faschismus, Nationalismus und Kriegstreibern halten. Immer wieder faszinierend, mit wie viel Wut VERHEERER ihre Stücke herausfeuern, wobei die filigranen Details nicht auf der Strecke bleiben. In den epischen Gitarrenleads mache ich sogar einen Death-Metal-Einschlag aus, wobei Black Metal der Kontext bleibt. Dissonanzen passen zur Kriegsthematik, der Gesangsbereich deckt Screams, Growls und gesprochene Parts ab. Eine effektive Abwechslung zu den nach vorne preschenden Riffs stellen die Stampfpassagen dar, zu denen sich auch gleich alle Fäuste heben und die Meute mit Sprechchören feiert. Mein Highlight stellt heute der treibende Brecher „Grabenwurm“ dar, der durch donnernde Drums und eine einprägsame Basslinie zum Bangen zwingt. Das war der dritte VERHEERER-Gig, dem ich meiner Erinnerung nach beigewohnt habe – und es wird wohl nicht der letzte sein.
ARROGANZ waren bereits auf der „15 Jahre ENDSTILLE“-Feier im Klubsen dabei, über die hier Siggi Sick (R.I.P.!) berichtete, sie dürften also gut mit den Kielern befreundet sein. Sie haben heute vielleicht den besten Sound, wobei der Klang generell richtig gut ausfällt und deutlich über dem Level sonstiger Konzerte in der Räucherei liegt. Übrigens ist es die erste Veranstaltung der Schaubuden-Crew, die hier schon vor einiger Zeit loslegen wollte (IMPERIAL TRIUMPHANT, CAR BOMB), aber durch einen Sturmschaden noch bis heute warten musste. Auf Platte höre ich ARROGANZ irgendwie selten, live funktioniert die Band für mich besser. Die Death Doom Punks spielen heute ihre letzte Show mit dem Gitarristen -P-, der in einer emotionalen Ansprache verabschiedet wird. Das Trio peitscht den Mob durch ihre eigenwillige Mischung aus Raserei und Mahlstrom auf. Obwohl die Texte ja eigentlich kaum zu verstehen sind, grölen viele mit (oder tun so), was man vielleicht auch der Fähigkeit von ARROGANZ zu Gute halten muss, gewissermaßen lautmalerisch Bilder in den Köpfen zu erzeugen. Oder wie Siggi vor zehn Jahren schreibt: „texte kann ich mir gut vorstellen--von Verwesung und Tod im Kerker bis zur Enthauptung durch den Scharfrichter auf dem Marktplatz.“ Das fühle ich heute definitiv auch.
„Keine Blastbeats = kein Applaus!“, so lautet eine uralte Weisheit. Mit einer schier nicht endenden Welle an Blastbeats feiern ENDSTILLE nun ihr 25-Jähriges und schnell entsteht vor der Bühne ein Chaos aus zerbrochenen Bierflaschen, Glasscherben, hineinfallenden Menschen und Blut. Dunkelheit über Kiel! Das entspannte Miteinander von zwei ungeschminkten Hackfressen (Timm, der Rote) und zwei Corpsepaint-Fratzen (Cruor, Zingultus) mochte ich bei ENDSTILLE (ähnlich wie bei DESASTER) schon immer. Herr Wachtfels pendelt zwischen herzlichem Anpöbeln und Beschimpfung des Mobs („Ich kenn ja hier die Hälfte der Leute“, „Halt die Fresse!“), während Zingultus später sogar ein Lob an seinen Vorgänger Iblis und dessen Leistung in der Frühphase der Band äußert. Unerhört, aber natürlich tritt Z. dann doch noch nach: „Aber jede Sonne verblasst irgendwann und jeder Stern wird müde.“ Dem Motto des Abends fräsen sich ENDSTILLE durch alle Phasen ihrer Bandgeschichte. Time to load the Flak of hate! Durch den guten Mix hört man im Gekloppe auch die stets vorhandenen Feinheiten und Gitarrenharmonien heraus. Was ich bis kurz vorher nicht wusste: Es waren ordentlich Gäste geladen, die der Show den Charakter eines besonderen Happenings verleihen. Auf -K- von ARROGANZ und Björn (KILT) hätte man tippen können, mit Kroil von TEUFELNACHT und Seuche (FÄULNIS) zaubert man aber zwei dicke Überraschungen aus dem Ärmel. Seuche alias Ben alias Ernie Fleetenkieker hatte sich offenbar den gesamten bisherigen Abend über erfolgreich im Backstage versteckt. Kroil schmettert „Bastard“ mit, ich fühle eine Erschütterung in der Macht. Zwischendurch fällt die Bassanlage aus, aber Pannen gehören dazu, ich finde sowas immer ganz gut, da weiß man dann auch 100%ig, dass alles echt ist und keine Backingtracks laufen. Zum Schluss also Seuche, der mit Hosenträgern und Brille alles in Grund und Boden kreischt. Doch Moment, ganz gehen ENDSTILLE noch nicht von der Bühne, es werden noch mal alle erwähnten Gäste blutgeduscht und zusammen auf die Bühne geholt.
So kann man das machen, wenn man ein 25-jähriges Jubiläum feiert. Fuck Hell!
