DIE GOLDENEN ZITRONEN / 19.12.2024 - Hamburg, Kampnagel
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- Kategorie: Berichte aus dem Pit
- Veröffentlicht: Sonntag, 22. Dezember 2024 21:02
- Geschrieben von Steffen Frahm
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GOLDENE ZITRONEN war mein erstes Punkkonzert, 1987, Jugendzentrum Rendsburg. Der Abstand ist so groß, dass ich zwar nicht vergessen habe und werde, dass das damals ich war, aber dass ich dazu stehen kann und falls doch nicht ganz, dann zumindest damit leben. Die Band feiert heute Abend im Hamburger „Kampnagel“ ihr 40jähriges Jubiläum und kommt um die Auseinandersetzung mit dem Frühwerk natürlich auch nicht vorbei. Auf dem Album zum Bandgeburtstag, „Inventur“, ist die erste von 3 Platten voll mit Zeug aus der Porsche-Kampfstern-F***-You-Phase, und Ted Gaier war lange Zeit dagegen, dass diesem Karriereabschnitt überhaupt eine Würdigung zuteil wird.
„Porsche, Genscher, Hallo HSV“ kommt als Duett aus Schorsch Kamerun und CAMILLE O an der Harfe. Was wohl der eine, einzige Nietenkaiser im ausverkauften Saal darüber denkt oder fühlt? Im Vermeiden rockistischer und punkistischer Maskulinität waren die Goldies immer konsequent, selbst auf ihren ersten 3-4 Platten. Bloß nicht „amtlich“ sein. „Für immer Punk“ ist dementsprechend eine stellenweise durchaus hurz!mäßige Solo-Interpretation von Camille O., vom lustig-kerligen Gegröle des Originals ist nichts übrig. Die Zeile „Willst du wirklich immer konservativ bleiben?“ löst Gelächter aus. Niemand dürfte ernstlich erwartet haben, dass hier heute Abend die alten Funpunk-Versionen nachgespielt werden. Punknostalgie bei den Goldies? Vergiß es.
Schorsch Kamerun ist der Hohepriester der gesanglichen Dünnheit, die je nach Kontext als Anti-Rock-Habitus, als theatralische Überzeichnung oder als Zerbrechlichkeit gelesen werden kann, Letzteres am beunruhigendsten beim im Dunkeln gespielten „Wenn ich ein Turnschuh wär“. An die 2000 Menschen sind 2024 beim Versuch, aus ihrem Herkunftsland zu fliehen, im Mittelmeer ertrunken. Da wird‘s einem eng um die Brust. Signifikant ungemütlicher als der Politikanteil beim Bap-Konzert vor 2 Wochen.
Wesentlich unterhaltsamer, sozusagen am ganz anderen Ende des Spektrums, ist natürlich „Ganz doll Schnaps“, solo auf der Ukulele dargeboten vom damaligen Zitronen-Bassisten Aldo Moro. Ganz schöner Spagat, muß man erstmal hinbekommen. Volker Lechtenbrinks Management verklagte die Band damals wegen Urheberrechtsverunglimpfung und bekam 12000 Mark zugesprochen. Morgen werde ich mir das luxuriös ausgestattete Reissue der „Porsche, Genscher, Hallo HSV“ anhören und feststellen, dass da nur die Schlagzeugspur von „Ganz doll Schnaps“ drauf ist. Dass ich meine 1987 erstandene PorscheGenscher-LP mit der UNZENSIERTEN VERSION längst verscherbelt habe, verschmerze ich. Unzensierte Versionen auf alten Punkplatten, auch so ein Thema.
„Börsen crashen“ wird vom ca. 40stimmigen, gemischten „Butt-Chor“ interpretiert - vielleicht der überraschendste und zurecht heftig bejubelte Gastbeitrag heute Abend, auch weil er dem bei Auftritten der Goldenen Zitronen immer mitschwingenden Surrealen eine zusätzliche Facette verleiht. „Wir verlassen den Planeten“, letztes Stück des regulären Sets, sei, so Kamerun „Sun-Ra-Eskapismus, also positiv“. Ich komme mir in diesem Moment kulturell ausgesprochen gebildet vor, weil mich bereits die ersten Sekunden des Konzerts, mit funky Geräuschen und den trashig-flamboyanten Kostümen der Musiker, exakt ans Arkestra erinnerten, das ich vor wenigen Jahren in genau diesem Saal gesehen habe. Die Weirdness und das Alleinstellungshafte haben gewisse Ähnlichkeiten. Sun Ra. Ist das noch Punkrock? Ich glaube nicht.
Paradoxes Highlight ist mal wieder „Das bißchen Totschlag“: Ted Gaier erklärt, dass es ja auch schön wäre, wenn man den Song einfach nur aus nostalgischen Gründen spielen könnte, aber die Zeiten seien ja nicht so. Psycho 1, Bandmitglied in den 90ern, der eben das großartige „Heinrich Brinkmann“ gegeben hat (angeblich eine Live-Premiere, dabei könnte ich schwören, dass sie‘s damals in der T-Stube gespielt haben), spielt Baß, Thomas Wenzel läßt die Orgel quietschen, und die beiden Drummer schieben diesen nach 30 Jahren irgendwie prophetisch wirkenden (Entschuldigung bitte für das folgende Wort) Groover durch die tanzenden Leute. Ein Klassiker im Goldies-Repertoire, ein Song, der, wie man so sagt, die Verhältnisse zum Tanzen bringt. Ich glaube, ich verstehe diese Metapher heute zum ersten Mal.
Man darf gespannt sein, wie es mit den Goldenen Zitronen weitergeht. 40 Jahre sind eine lange Zeit, aber nach dem heutigen Abend kann man drauf zählen, dass noch was kommen wird. Wer etwas über das Selbstverständnis der Band (bzw. ihrer beiden Gründungsmitglieder Schorsch Kamerun und Ted Gaier) sowie über ihre Gedanken zum Jubiläum erfahren möchte, sollte unbedingt diesen Podcast hören:
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