SEPULTURA, JINJER, OBITUARY, JESUS PIECE / 01.11.2024 – Hamburg, Inselpark Arena
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- Kategorie: Berichte aus dem Pit
- Veröffentlicht: Mittwoch, 06. November 2024 19:43
- Geschrieben von Philipp Wolter
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Da machen SEPULTURA doch glatt die Kneipe dicht! Ich war erst überrascht, da die Thrasher ja nun nicht so alt sind wie diverse Bands aus den Siebzigern, die immer noch munter touren. Aber ich verrate euch schon mal etwas, was sonst gern erst im Fazit formuliert wird: Ich glaub das nach diesem Konzert tatsächlich. Natürlich wird diese Tour noch lange dauern und SEPULTURA werden ganz sicher noch auf europäischen und deutschen Festivals spielen. Danach wird Schluss sein. Und zwar nicht, weil sie nicht mehr können. Sondern weil sie der 40ig-jährigen Bandgeschichte einen würdigen Abschluss geben wollen. Going out with a bang. Celebrating life through death. Dass heute mit OBITUARY alte Weggefährten mit am Start sind, erleichtert uns die Entscheidung, das Konzert mitzunehmen, noch zusätzlich. Und ich bin echt froh darüber, diese Tour nicht verpasst zu heben!
Bilder von MJ.
Dass die Tour auf einem anderen Niveau verläuft als in den letzten Jahren bei SEPULTURA gewohnt, war klar. Das Ding mit der Abschiedstour funktioniert halt, siehe SLAYER. Aber dass es heute dann tatsächlich sogar ausverkauft ist, hätte ich nicht gedacht. Ich bin ja kein Freund dieser Arenen und Stadien, aber heute verläuft eigentlich alles angenehm. Vor allem der Sound muss gelobt werden, und das bei allen Bands. Natürlich muss man immer mal irgendwo anstehen, aber das ist bei mehreren Tausend Besucher:innen wohl nicht anders lösbar. Neu für mich: Die Inselpark Arena (früher Edel Optics) ist mittlerweile komplett cashless. Ich erinnere mich an einen Konzertbericht hier auf DreMu, in der über ein Konzert in den USA berichtet wurde, auf dem der Rezensent sein Bier nur mit Karte kaufen konnte (hm, „kauft“ man ein Bier eigentlich oder „erntet“ man es „ab“?). Das fand ich beim Lesen völlig crazy. Und nun ist es hier auch so. Frecherweise sind auf den labberigen Plastikbechern sogar zwei Euro Pfand, die auch nur zurückerstattet werden, wenn das Ding heil bleibt. Ganz klar eine zusätzliche Einnahmequelle für den Schuppen.
Ächz, JESUS PIECE. Ich will nicht zu viele Worte über diese Band verlieren. Total stumpfer Metalcore, bei dem sich ein Mosh-Breakdown an den nächsten reiht. Der Sänger röhrt dazu mit einer Monotonie, die mich an meine Schulzeit und hier die samstäglichen Doppelstunden Erkunde erinnert. Dieses Gefühl der sich dehnenden Zeit hab ich nie wieder erlebt. Bis jetzt.
Aber zum Glück kommen nun OBITUARY! Wie lässig diese alten Haudegen ihr Gear einschalten und der knüppelvollen Halle einfach mal ein paar Watschen verpassen. Als das erste Riff ertönt, verspürt wohl jede:r Anwesende eine fette Gänsehaut – „Redneck Stomp“! Ohne viel Worte werden gleich „Threatening Skies“ und „By The Light“ hinterhergewämst, bevor die Obi-Recken sich erst mal gemütlich einen Schluck aus der Pulle gönnen und ein wenig feinjustieren. Dieser unnachahmliche Gitarrensound, dieser Groove, diese Stimme! Alle Musiker haben sich gut gehalten, John Tardy sieht sogar aus wie vor 20 Jahren. Und der „neue“ Gitarrist Kenny Andrews (auch schon seit 12 Jahren in der Band) fiedelt die Soli rein wie einst Ralph Santolla (R.I.P.). Es ist eigentlich fast egal, von welcher Platte OBITUARY Material spielen, denn die Band hat bekanntlich keinen schlechten Song veröffentlicht. Aber natürlich freuen wir Old School Fans uns besonders über „Deadly Intentions“, „Chopped In Half“, „Turned Inside Out“ und „Slowly We Rot“. Wobei eine Überraschung wie „Solid State“ auch hochwillkommen ist. John Tardy verspricht eine baldige Rückkehr mit einer Headlinertour – jetzt schon Bock drauf.
Von JINJER kannte ich bisher nur den Namen, die Musik habe ich bewusst noch nicht gehört. Kann man enttäuscht werden, obwohl man gar keine Erwartungen hegt? Tatsächlich ja. Mir ist jedenfalls so, als hätte ich im Zusammenhang mit JINJER etwas von progressiver Musik gelesen. Aber ich höre hier Metalcore oder Nu Metal, den ich so und ähnlich schon recht häufig erlebt habe. Was die Band besonders macht, ist natürlich die Sängerin Tatiana Shmayluk, die ihre Sache tadellos macht, eine starke Bühnenpräsenz besitzt und alle Nuancen ihrer Stimme von Klargesang bis Growls in Perfektion abrufen kann. Aber irgendwie wirken JINJER auf mich zu routiniert, der Auftritt wird recht emotionslos runtergespielt. Das sehen mit Sicherheit viele Leute anders, insgesamt kommen die Ukrainer:innen sehr gut an und dürften ihren Teil zum Erfolg der Tour beigetragen haben. Was ich beim Konzert übrigens gar nicht mitbekomme: „Irgendein Pfosten wirft ständig Promo CDs mit Plastikhüllen seiner Band Richtung Bühne. Trifft erst fast eine Fotografin am Kopf und dann dann schließlich voll Tatjana von Jinjer am Kopf. Später fliegt eine nur Zentimeter am Kopf von Andreas Kisser von Sepultura vorbei. Idiot.“ (Bö Börbel auf Fb) Darüber gibt es wirklich keine zwei Meinungen, da hat jemand den Begriff „Promotion“ grundlegend falsch verstanden…
Ich bin wie die meisten eher Fan der Cavalera-Phase und bevorzuge „Schizophrenia“, „Beneath The Remains“ und „Arise“. Derrick Green schätze ich aber als Sänger und Performer sehr, nur konnte keines der SEPULTURA-Alben ab 1998 mehr die alte Klasse erreichen (ob das mit Max anders gewesen wäre, steht aber keinesfalls fest). Live empfand ich SEPULTURA ganz früher als spektakulär, in jüngeren Jahren sehr unterschiedlich. Aber leckt mich am Arsch, der heutige Auftritt reicht tatsächlich auf seine ganz eigene Art an alte Glanzzeiten heran! Woran liegt das? Zunächst mal stimmen die Rahmenbedingungen, Licht, Ton und optische Elemente (Einspieler über große Videoscreens) sind hervorragend. Dann ist die Band einfach mal on fire! Neuschlagzeuger Greyson Nekrutman mault sich zwar beim Erklimmen des Drumrisers fast ab, zaubert dann aber derart fabelhaft, dass die ganze Bude wackelt. Ein Könner vor dem Herrn, der auch schon bei SUICIDAL TENDENCIES, aber auch in Jazz, Big Band und Latin-Projekten involviert war. Kissers Gitarre schneidet richtig schön, Green klingt heute etwas kratzig, was ich aber gerade geil finde. Und dann haben wir Paulo am Bass, der als einziger gerade wirklich die 40 Dienstjahre bei SPULTURA vollmacht – und das mit ordentlich Druck. Die Setlist ist dem Anlass angemessen von epischer Länge und wildert durch fast die gesamte Discografie, denn von nicht weniger als elf Alben werden Songs präsentiert. Dabei finde ich es erbaulich, wie thrashig und charismatisch gerade die Klassiker kommen. Mit „Refuse/Resist“, „Territory“ und „Slave New World“ geht es furios los, später bekommen Thrasher mit „Troops Of Doom“, „Inner Self“ und „Escape To The Void” (mein persönliches Highlight) noch richtig Backenfutter. Aber ich bin auch erstaunt, wie gut sich die neueren Songs einfügen. Das Set ist äußerst abwechslungsreich, umfasst auch ruhigere Töne. Bei einem mir unbekannten Stück überzeugt Derrick Green mit Klargesang, total geil. Und er lässt es sich nicht nehmen, auf den Überlebenskampf indigener Gemeinschaften hinzuweisen. Sehr emotional und so wichtig gerade vor einem vieltausendköpfigem Eventpublikum. Ich bin geflasht und verlasse die Halle nicht, bis mich „Arise“, „Ratamahatta“ und „Roots Bloody Roots“ völlig weichgeklöppelt in die Nacht entlassen.
Danke für 40 Jahre Thrash Metal, SEPULTURA! UNDER A PALE GREY SKY – WE SHALL ARISE!