JOHN CALE / 25.02.2023 - Hamburg, Kampnagel

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Freitagabend, endlich Wochenende: Die Liebste und ich schwingen uns in die Schleuder, ab nach Hamburg zu JOHN CALE. „Auf Kampnagel“ angekommen, stellen wir fest: Spielt erst morgen. Sowas ist mir auch noch nicht passiert. Na gut, Essen gehen, heimfahren, Oma kann morgen auch, geil, Konzert!
 
Einen Tag später stelle ich mir vor, wie wir das Kampnagel-Foyer betreten, um festzustellen, daß das Konzert gestern war. Whaaaat? Science-Fiction-Fantasie. Statt dessen sitzt man plötzlich mit den Faxes im Gastro und mampft Halloumi-Burger mit Fritten. Herrlich! Gespräche über Kinder, Cale, die Velvets, Nick Cave und Dylan. Aus dem Foyer wummern Durchsagen, und du fragst dich, ob sie dich betreffen.
 
 
JOHN CALE
 
 
Es war vor einigen Jahren in einer Berliner U-Bahn, als mir irgendein Typ die Anekdote erzählte, wie John Cale vor Punks spielt, und die bespucken ihn (Was sollen sie auch sonst machen?), und dann geht er backstage, kommt mit einem LEBENDEN HUHN zurück (Wir alle wissen, daß jeder Backstagebereich über mindestens ein lebendes Huhn verfügt), BEISST IHM DEN KOPF AB, und den Punks bleibt buchstäblich die Spucke weg.
 
Gute Geschichte, so gut, daß sie keiner Verifizierung bedarf. Und gut genug, um Cales Ruf, ein Radikaler zu sein, zu illustrieren. THE VELVET UNDERGROUND, die er mit Lou Reed gründete und 1968 verließ, müssen an sich schon völlig radikal bzw. abseitig gewirkt haben. Während „Love & Peace“ regierte, setzten sie auf Härte, schwarze Kleidung und Heroin. Nach Cales Abgang wurden sie songorientierter und poppiger. Auf seiner Bratsche, an der er klassisch ausgebildet ist und zu der er heute Abend leider nicht greifen wird, spielte er unter Einfluß von Minimal Music leiernde Dauertöne, das komplette Gegenstück zu endlosen Gitarrensoli. Drones. Dieser Begriff begegnete mir Ende der Achtziger zum ersten Mal im Zusammenhang mit John Cale und Velvet Underground, Jahrzehnte vor SUNNO))) oder Leuten wie DANIEL BACHMAN, von denen ich mir heute gern die Frisur richten und das Sensorium kalibrieren lasse. Stücke wie „Venus In Furs“ und natürlich „Heroin“ verdanken dieser Spieltechnik ihren schleifenden, schlierigen, sedierten und passiv aggressiven Charakter.
 
 
JOHN CALE
 
 
Sein Solo-Frühwerk scheint dagegen der reinste Wohlklang zu sein, aber da ist diese sperrige Nuance in seiner Stimme, die schwer zu fassen ist: Nicht direkt kühl, nicht direkt distanziert, aber weit entfernt von jeglicher Rock-Emphase. Englisch mit walisischem Akzent, relativ wenig Vibrato. Keine Ahnung, ob John Cale einen Platz in irgendwelchen Bestenlisten des Rolling Stone oder anderer Geschichtspostillen hat, aber ich habe diese Stimme immer sehr gemocht. Sein bekanntestes Album „Paris 1919“ aus dem Jahr 1973 (Der Titel bezieht sich auf Ort und Zeit der Unterzeichnung des Versailler Vertrags, auch nicht unbedingt das gängigste Rock-Thema) beschreibt zwar u.a. Cales Kindheit in Wales, aber die vordergründige Beschaulichkeit und Saturiertheit hat eine surreale Unterströmung, und je mehr man sich auf diese konzentriert, desto plausibler erscheint einem die Möglichkeit, daß hinter der Fassade die Alpträume lauern.
 
 
Solche oder andere Abgründe öffnen sich auf Alben wie „Fear“ (1974) schon unverblümter, und das Live-Dokument „Fragments Of A Rainy Season“ (1992) ist die emotional konfrontativste Ein-Mann-und-sein-Instrument-Platte, die man sich vorstellen kann. Legendär auch seine Interpretation des Elvis-Klassikers „Heartbreak Hotel“: Cale befreit das Stück von jeglichem Rock‘n‘Roll und legt seine gepeinigte, verlassene, suizidale Seele frei.
 
 
„I never wrote a song called Cocaine. I never wrote a song called After Midnight. My name is Cale. You can call me John“, stellte er im Opener „Autobiography“ seines „Rockpalast“-Auftritts am 14. Oktober 1984 klar, wohl wissend, in was für einer Art Palast er da gastierte, in Gesellschaft von Level 42 und Huey Lewis. Und am späten Freitagmittag, bevor wir schonmal im Kampnagel nach dem Rechten schauen, fragt ein planloser Arbeitskollege meine Frau: „ZU WEM FAHRT IHR JETZT NOCHMAL? J.J. CALE?!“ Alteingesessenes Rock-Mißverständnis also, aber ist JJ nicht schon lange tot?
 
 
JOHN CALE
 
 
80 Jahre alt und definitiv nicht tot ist John Cale! Forschen Schrittes betritt er hinter seiner dreiköpfigen Band die Bühne im vollen K6 und gewinnt gleich den Preis für den bestangezogenen Mann des Abends: Schwarze Jeans und eine ebensolche Nosferatu-Joppe, schicke Brille, dazu silberne Schuhe mit Raupenbagger-Sohlen und eine ebensolche, genialisch zerzauste Frisur. Gerade eben noch habe ich mich bei N. entschuldigt, daß ich sie immer auf diese Geriatenkonzerte schleppe, aber das hat sich jetzt erledigt, denn so wollen wir alle aussehen, wenn wir noch nicht tot sind. Ich auf jeden Fall.
 
 
Die ersten drei Songs kenne ich nicht, bzw. ich ERkenne z.B. „The Endless Pain Of Fortune“ nicht, immerhin ein Song von der häufig gehörten „Paris 1919“. Außerdem muß ich mich erstmal reinfinden in Setting und Sound: Sitzkonzert, erste Reihe links, da muß man eine Sitzposition finden, die mit dem Mobiliar kompatibel ist und die Notwendigkeit der Halsverrenkung minimiert. Die Band ist technisch natürlich hervorragend, klingt ziemlich clean, und z.B. die geschmeidigen Moves des Bassisten sind initial nicht so mein Ding, aber daß ich in gewissem Maß überrascht werde und mich einlassen muß, das war eh alles ausgemachte Sache.
 
 
Cale steht in einer Burg aus modernen Gerätschaften, vor sich ein Korg-Keyboard. Bei Bedarf lehnt er sich auf einen Barhocker. Die Patches, die er benutzt, klingen recht artifiziell, so daß irgendeine bewußt oder unbewußt erhoffte vintage Gemütlichkeit gar nicht erst aufkommt. John Cale präsentiert seine Musik in ihrer derzeit für ihn gültigen Form, und das heißt: mit großem Elektronik-Anteil. Die Grooves haben meist Loops als Grundlage, auf die der komplett beckenlos agierende Drummer sich draufsetzt, und der Gitarrist läßt seine Stratocaster mittels irgendeines MIDI-Gadgets wie alles Mögliche klingen.
 
 
Und wenn das auch alles total im Jetzt lokalisiert ist - ganz läßt den Künstler die Vergangenheit doch nicht los: „Moonstruck“, ein Song von der nach 5x Hören bisher gar nicht mal sooo tollen neuen Platte „Mercy“, handelt von Nico, bürgerlich Christa Päffgen, 1988 auf Ibiza tot vom Fahrrad gefallen. Sie war Mitte der 60er Jahre Andy Warhols Muse, nachdem er Edie Sedgwick abserviert hatte, wurde Teil der „Factory“, Warhols Kunstkosmos, und sollte nach seiner Vorstellung Sängerin von The Velvet Underground werden, mehr oder weniger zum Mißfallen der Band. Am Ende sang sie einige Songs auf dem Schallplattendebut mit dem wahrhaft ikonischen Bananencover, von denen Cale in der Vergangenheit „Femme Fatale“ im Live-Repertoire hatte. Und im Rahmen der Live-Reunion von Velvet Underground Anfang der Neunziger war es Cale, der „All Tomorrow‘s Parties“ sang. Die Version auf der offiziellen Konzertplatte „Live MCMXCIII“ schlägt für meinen Geschmack das Original.
 
 
JOHN CALE
 
 
Auf dem Backdrop ist während des Songs ein verflimmertes Foto von Nico zu sehen; von Nico und einem jungen Mann mit Sonnenbrille und Prinz-Eisenherz-Haarschnitt. Und dieser Mann ist John fucking Cale! Das Lebensalter des Protagonisten sollte in einer Rezension keine gar zu große Bratsche spielen, aber die Zeit, in der dieses Foto geschossen wurde, ist so lang her, daß sie jeglicher Verklärung längst anheim gefallen ist, und ihr angeblicher Spirit wirkt konträr zu dem unserer Gegenwart. Ob Cale seine beiden Lookalikes gesehen hat, die vor dem Konzert untergehakt und somnambul durch die Menschenmenge flanierten, schwarz gewandet und mit Sonnenbrillen? Sie sahen aus wie Andy Warhol und Lou Reed in New York, 1966.
 
 
„Please console me, yes please hold me / I have come to make my peace / And miles and miles, and miles and miles / And miles and miles to go“, singt Cale über die längst Gegangene, die mit Lou Reed eine Liaison hatte, für die er Songs zu schreiben versuchte, die den engen Rahmen ihres Gesangstalents nicht zu arg strapazierten, und deren Alben er produzierte. Egal, wie weit die Vergangenheit zurückliegt, man kann sie jederzeit wieder vor der Brust haben.
 
 
JOHN CALE
 
 
„Rosegarden Funeral Of Sores“ wird als stand-alone-song präsentiert, nicht als mash-up mit „Femme Fatale“ wie auf der ausgezeichneten „Circus Live“-Doppel-CD, die wir auf den Hinfahrten hören. Letztes Jahr haben BAUHAUS in der Zitadelle Spandau ihr ziemlich gutes Cover dieses Songs gespielt und zwar so wie immer, wogegen ja nichts spricht. Bei John Cale hingegen sind, wie bei Bob Dylan, die Lieder immer nur Vorlagen für neue Arrangements und Versionen. Er sampelt seinen eigenen Gesang und generiert Cluster aus Zeilenfragmenten. „Virgin Mary was tired / So tired / Tired of listening to gossip / Gossip and complaints“, knarzt Cale, fügt mit einer schlitzohrigen Handbewegung „FROM NEXT DOOR“ hinzu, und ein monochromes Stimmengewirr flirrt durch den Saal. Das hat Unterhaltungswert und schrulligen Humor.
 
 
Richtig ab geht es dann, als er bei „Helen Of Troy“ zur Elektrischen greift und vom ersten Akkord an mit räudigem Sound und ruppigem Spiel den Ensembleklang aufmischt. Sein Gitarrist erzeugt dazu mit seinem Gelöte die Sandalenfilm-Bläser, auf die der Song nicht verzichten kann, und das klingt, getragen von der mächtig groovenden rhythm section, sehr abgedreht. Eindeutig ein Rock-Highlight der Show aber so dermaßen idiosynkratisch und intellektuell, daß David Bowie in seiner „Scary Monsters“-Inkarnation nicht weit zu sein scheint.
 
 
Und dann, kurz vor Schluß, das wundervolle „Hanky Panky Nohow“ mit einer meiner liebsten Songzeilen: „Nothing frightens me more / Than religion at my door“. Dazu spielt John Cale eine seltsame Mixtur aus Saloon- und Bluespiano. An seinem Gesang ist derweil nichts auszusetzen: Auch die hohen Stellen in den Refrains packt er, ohne daß es nach Anstrengung klingt. Danach noch ein mir unbekannter Song, dessen improvisiertes Fade-out Cale mit dem frotzeligen Appell an den Gitarristen, es „…for God‘s sake…“ endlich zuende zu bringen, fast ein wenig abrupt abkürzt. Dann gibt es endlich stehende Ovationen und begeisterten Jubel.
 
 
JOHN CALE
 
 
Für das bewährte Cover-Medley aus „Pablo Picasso“ und „Mary Lou“ kommen sie noch einmal zurück, Cale wieder an der Gitarre. „Pablo Picasso never got called an asshole / Not in New York“, wiederholt er wortspielerisch etliche Male und lächelt amüsiert. Der Song besteht im wesentlichen aus einem einzigen E-Akkord, und der Chef stiftet die Band zum Jammen an, worauf sie nur zu gern einsteigt. „We had fun“, erklärt John Cale abschließend. Das war nicht zu übersehen.
 
 

Bewertung: 5 / 5

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