JAIMIE BREEZY BRANCH / 03.04.2022 - Hamburg, Elbphilharmonie

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JAIMIE BREEZY BRANCH hat letzten Sonntag den kleinen Saal der Elbphilharmonie…nun ja… „gerockt“, da krieg ich Fingerrheuma, „gejazzt“ kann man auch nicht im Ernst sagen, und überhaupt ist das hier am Anfang doch ne reichlich steife Angelegenheit, auch wenn die pockigen Schallschluck-Paneele, von denen jedes einzelne vermutlich ein Vermögen gekostet hat, irgendwie geil sind. Im Foyer gab‘s Kaffee aus dem Replikator und handgedrechselte Schokolade mit Usambara und handgewaschenem Elbsalz, wie das heute halt so sein muß.
 
 
JAIMIE BREEZY BRANCH
 
 
Punkt 20:28 Uhr schließt sich die pockige Tür, man sieht kaum noch, daß da mal eine Tür war. Crazy. Fast wie in „Contact“. Auch die Tür, durch die die Musiker:innen auf die Bühne kommen werden, ist unsichtbar, erst recht, als das Saallicht runtergedimmt und das Bühnenlicht eingeschaltet wird.
 
Das Gemurmel der gemischten Crowd (vom graubärtigen Funkhaus-Zausel bis zum Trainingsjackenslimfitter ca. alles dabei) verstummt beinah. Jeden Moment kommt Herbert von Karajan um die Ecke.
 
Aber nein, die Tür in der Pockenwand tut sich auf, und Fly-Or-Die-Drummer Chad Taylor betritt als Erster die Bühne. Applaus, erst recht, als Jaimie Branch erscheint. Ihr Outfit haut mich um, gelinde gesagt: Intensiv lila Bade- oder Boxmantel mit chinesischen Spiegelperlen-Bildern hintendrauf, Base- oder Basketball-Trikot in ca. 4XL, grüne Adidasbuxe, riesige Sneaker und ein weißer HipHop-Hut, den nur die Nase der Künstlerin hindert, den Kopf vollends zu schlucken. Sieht großartig aus und harmoniert bestens mit Branchs etwas kodderiger und vor allem extrem lässiger Attitüde.
 
Kann losgehen. Zunächst müssen Cellist Lester St. Louis und Kontrabassist Jason Ajemian aber ihre Instrumente stimmen. Der Begrüßungsapplaus ist längst vorbei, der Sound der leer gestrichenen Saiten flutet den Raum, und Branch ist ob der Umstände vielleicht ein wenig verunsichert, wendet ihren Blick von Chad Taylor über die Schulter Richtung Publikum und sagt, daß dies schon „…the whole concert…“ sei. Gelächter. Erinnert mich an Helge Schneider, der nach dem ersten Song „Tschüß!“ ruft.
 
 
JAIMIR BREEZY BRANCH
 
 
„A Prayer For Amerikkka“, der Übersong in Branchs Katalog, ist erwartungsgemäß der erste Set-Höhepunkt. ”It‘s a song about America, but it‘s about a whole lotta places – `Cause it‘s not just America where shit‘s fucked up“, hört man sie auf der in Zürich aufgenommenen Liveplatte aus dem letzten Jahr sagen, und das kann man mal festhalten. Shit‘s fucked up on various levels. Lieber noch eine Stunde mehr am Tag gute Musik hören als sich die ganze Scheiße real reinzuziehen. Als Branch uns auffordert, rauszufinden, „…what we can do for a change, ok!?“ und der übliche und berechtigte Applaus aufbrandet, rufe ich „I don‘t know!“, aber das hört keine/r. Der Song beginnt schleppend, stolpernd, mit Klagelauten und endet furios auf einem jazzigen Quasi-Techno-Bounce mit spanisch absteigenden Tonfolgen, über die Branch ihre Trompete durchdrehen läßt.
 
Für Jazz-Akademiker ist das glücklicherweise nichts bzw. gewöhnungsbedürftig, was weiß ich. Punkrock ist ein Teil von Branchs musikalischer Biografie, und das Etikett „Punk“ wurde ihr oft angehängt, teils vielleicht aus Verlegenheit. Aber das ist schon ok so, denn diese Musik ist voller Brüche und kennt scheinbar keine Grenzen. Moment mal, wie soll dieses Schillern zu ödem Punkrock passen, diesem breiigen Gerierungssoundtrack ewiger Jungs? Egal, Jaimie Branch macht, was sie will, sagt: Fuck you, es ist einfach MUSIK, und die ganze Band hat augen- und ohrenscheinlich einen Mordsspaß dabei. Es wird viel interagiert, einander angeschaut, gelacht und sich was zugerufen. Pausen gibt es so gut wie keine, alles geht ineinander über, und wo im einen Moment noch ambientartige Soundscapes wabern und wummern, knallt in der nächsten Sekunde wieder ein Beat los, und Fly Or Die fegen durch die Halle wie eine Stampede. An einer Stelle verlassen die Streichinstrumentalisten tatsächlich die Bühne und gehen Percussion spielend durch die Reihen, während Branch Kreise um Taylor und sein Drumkit zieht.
 
Überhaupt durchmißt sie, wenn sie gerade nicht spielt, wiegenden Schrittes den Bühnenraum, mit leicht ausgebreiteten Armen, als wolle sie die musikalische Energie ihrer Mitstreiter unter ebendiesen (Armen) mit sich umhertragen, ein charismatischer MC, der keine Worte braucht, eine gute, coole Königin. Einmal legt sie sich auch mit dem Kopf vor Taylors Kickdrum. Zwischendurch greift sie zum Tamburin oder zur Kuhglocke, haut ein wenig drauf herum, läßt sie mehr oder weniger achtlos fallen und groovt herum oder spielt wieder Trompete, mit und ohne Dämpfer bzw. schickt den Sound über die Platinen elektronischer Pedale mit Echo oder Pitch. Wie gesagt, nichts für Puristen, aber sind die nicht auch längst ein Jazz-Klischee?
 
Zusammenlaufen müssen all diese Fäden am Ende im herrlich sarkasto-lasziven Freakblues „Love Song“ oder, wie Lester St. Louis es der Crowd gleich mal vorübersetzt, „Liebaslied fuhr Aschlöcker uhn Clowns“. Hamwirgelacht! Branch animiert wie immer zum Singalong, und da mache ich gern mit, schließlich ist man ja auch selbst anteilig Arschloch und Clown. Der Austausch mit dem Publikum hat seinen Höhepunkt an Ungezwungenheit erreicht, es gibt mehrfach Szenenapplaus, und nachdem Fly Or Die ihre letzte Runde gedreht haben, fragt Branch ihre Mitmusiker: „Did you hear the claps? They were in time!“, aber das waren nur ich und ein paar Andere. Ich bin ein sehr dominanter Klatscher, und nach der Time muß ich meist auch nicht lange suchen.
 

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