DIE ÄRZTE / 24.08.2022 - Hamburg, Trabrennbahn

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Nachts die im Halbschlaf völlig surreale, beim Aufwachen schwer, bitter und endgültig in mein Bewußtsein sinkende Nachricht, daß Jaimie Branch tot ist. Mit 39. Was soll denn so‘n Scheiß?
 
Morgens beim Bäcker, wo ich Herrn P. 1x pro Woche einen Kaffee ausgebe, die Schlagzeile auf der Morgenpost: „Zoff um Partydampfer!“ Gemeint ist die „M.S. Stubnitz“, der alte Fischtrawler, in dessen metallischer Bauchhöhle ich u.a. das beste EA80-Konzert meines Lebens gesehen habe. Welch irreführende Wortwahl, „Partydampfer“, das ist keine Ballermannfähre, Ihr Schreiberlinge! Jetzt jedenfalls, im zweiten Pandemiejahr, kommen bestens situierte Hafencity-Bewohner:innen an ihre Grenzen: Der Veranstaltungslärm sei nicht mehr zu ertragen. Sonst noch was?
 
 
DIE ÄRZTE
 
 
„Hafencity ... sowas ist generell ein Skandal. Die Wohnungsspekulanten muß man schlicht enteignen. Fehlt noch, dass sie eine Schranke aufbauen und einen Sicherheitsdienst engagieren um das gemeine Volk vom flanieren abzuhalten. Eine Schande ist das. Wohnraum zu besitzen muß ausschließlich für den Eigenbedarf erlaubt sein. Alles andere sollte genossenschaftlich organisiert werden. Ich frage mich, was wir uns von den Pfeffersäcken noch alles bieten lassen.“ (MH)
 
 
Kanonen für die Stubnitz.
 
Später Frau Emu vom Kostenträger am Bürotelefon: Meine Betreute Frau P., Bezieherin von Grundsicherung und wegen Inflation und Krieg nicht selten zur Monatsmitte pleite, müsse zuviel bezogene Inklusiospauschale eventuell zurückzahlen. „Ja, dann“, erwidere ich mit ersten Platzrissen im Kragen, „hat Frau P. ja bald überhaupt kein Geld mehr“ und attestiere dem System (bzw. ihr, denn es gibt solche und solche Sachbearbeiter:innen, und Frau Emu hat noch keine Gelegenheit ausgelassen, sich wie eine nickelige Schnepfe zu gerieren) Unmenschlichkeit. Woraufhin sie mit mit „Steuergeldern“ kommt. Das könne sie gleich vergessen, ihre Arbeit und auch meine würden genauso von Steuergeldern finanziert, sage ich. Und daß Frau P. diese Pauschale mitnichten benötigt, um sich in der warmen Jahreszeit für lau einen ordentlichen Eisbecher zu leisten, sondern um die Mitgliedsbeiträge für ihren Gesundheitssport aufbringen zu können. „Nun müssen Sie aber mal über eine Entschuldigung nachdenken“, rät mir darauf Frau Emu. „Ich wüßte nicht, wieso“, sage ich, „ Sie machen die Regeln nicht, aber ich frage mich, ob Sie sie nur so und auf Frau P.s Kosten umsetzen können und nicht anders.“ Und schließe mit der Zusage, mich selbstverständlich um die Vorlage valider Belege über die sachgemäße Verwendung der Pauschale (360€ im Jahr, ein Vermögen) zu kümmern, damit Frau P. auch ja keinen halben Cent zuviel kriegt.
 
Danach rufe ich meinen Chef an und schildere ihm diese Episode, falls eine Beschwerde kommt.
 
Und bin sozusagen durchgeframed für den Tag, mache mich mit Zweifeln auf den Weg nach HH, werde mit 70 in irgendeinem geschlossenen Dreckskaff geblitzt und bin endlich komplett durch mit der seelischen Bereifung.
 
 
DIE ÄRZTE
 
 
Zu den wenigen nicht-ambivalenten Begebenheiten des Abends gehört ohne wenn & aber meine Zufallsbegegnung mit Bart Simmons. Den habe ich ewig nicht gesehen und freue mich total. Mitte der Neunziger saßen er & ich (wieso eigentlich ich?) backstage mit Bela B. & Rodrigo Gonzales und redeten über alles Mögliche.
 
Wir sind die Besten.
In Hamburg und im Westen.
 
Täusche ich mich, oder schwächelt Bela? Es steht mir nicht zu, Bäuche zu bekritteln, trage selber einen, und ich weiß auch, daß ÄRZTE-Konzerte nie Austragungsorte musikalischer Perfektion waren, aber B. wirkt stellenweise etwas kurzatmig im Borderline-Kostüm und oszilliert vage zwischen Gemütlichkeit und Anstrengung. Die Punkrock-Frage stelle ich nicht, bin ja bei Verstand, aber was das sein soll, frage ich mich hier und da schon.
Auffällig ist dementsprechend, wie der ausgedehnte Rod-Block das musikalische Niveau hochreißt. Diesen Unterschied empfand ich früher als weniger groß.
 
 
DIE ÄRZTE
 
 
„Blumen“ höre ich zum ersten Mal als Vegetarier, und das fühlt sich gut an, vor allem auf einem Bratwurst-Event wie diesem.
 
Aus dem Nichts hartnäckiger trockener Reizhusten. Ich rotze mir einmal kräftig in die Hand. Kein Blut.
 
Staub.
 
(Viel später, endlich im Auto spült die Selter den Staub die Speiseröhre hinunter in den Magen. Morgen staubig kacken.)
 
Warum legst du dich nicht zwischen eine Straßenbahn?
Die Welt könnte so schön sein.
Ohne mich.
 
 
DIE ÄRZTE
 
 
Diese Band, die so viel „für uns“ getan hat, für postrelevant zu erklären, wäre genauso gemein wie irgendwie richtig. Aber das liegt nicht an den Ärzten und auch nicht daran, daß sie ihren Zenith vielleicht überschritten haben, zumindest live (was auch am Sound liegen mag, der hier, in der 521. Reihe, über die gesamte Dauer des Auftritts unausgewogen und doof ist).
 
 
Die Verhältnisse sind das Problem. Hier sind zigtausend Leute, keine Ahnung wieviel. Was wäre, wenn die alle draußen wären, um gegen ständig zunehmende soziale Ungerechtigkeit zu protestieren? Dagegen, daß Wohnen bald nur noch für Reiche ist? Gegen eine Politik, die keine Konzepte und Ideen hat, bei allem Erdenklichen auf Sicht fährt und ihre Aufgaben vernachlässigt? Mich selber nicht ausgenommen! FFF ist präsent, und das ist gut, auch wenn sie den Planeten nicht retten werden, aber wer geht denn sonst „mal wieder demonstrieren“, wie es in „Deine Schuld“ heißt? Die Basis, irgendwelche Montägler oder sonstige Hirnlobotomierte, DIE demonstrieren. Sie sind Superspreader des laufenden Schwachsinns, und sie sind auf der Straße.
 
(Blümeranzschauer in der Gesellschaft biergefüllter Männer, die ES IST NICHT DEINE SCHULD, DAẞ DIE WELT IST, WIE SIE IST, ES WÄR NUR DEINE SCHULD, WENN SIE SO BLEIBT! röhren.
 
Deswegen bei „Schrei nach Liebe“ demzufolge statt „Arschloch!“ lieber „F?tze!“ brüllen, um mich abzugrenzen.)
 
 
DIE ÄRZTE
 
 
Und was machen „wir“? Fühlen uns wohl bei Die Ärzte. Buhen Hamburg aus, weil Die Ärzte nicht am Millerntor spielen durften (wg. „Lärm“, ich hab grad n Déja-vu). Das wäre ja Ton in Ton gewesen, Die Ärzte in der Heimstatt des FC St. Pauli! Und heute „Friedenspanzer“ mit blau-gelbem Licht, denn es ist der Jahrestag der ukrainischen Unabhängigkeit von Rußland, und alle so yeah. Versteht mich nicht falsch, es sind nicht die Issues an sich, es ist der trügerische Komfort des dumpfen Konsenses einer Massenveranstaltung, was ä mich argwöhnisch macht. Ich trau dem Braten nicht (mehr). Steht zwischen Ärzten und den Hosen nicht doch hier und da ne Freiwild-Elpie? Und jetzt bitte keine oberschlauen Richtigstellungen bzgl. Spotify oder anderer Symptomen der kulturellen Degeneration einer Gesellschaft, i know it all.
 
„Was ziehst du dir da in deine Nase, Marius Müller…“, singt Rod am Beginn des Zugabenblocks ganz wunderbar zur eigenen Cembalo-Korg-Begleitung, und neben mir keucht Einer los wie ein Bulle: „WESTERNHAGEN!“
 
„Osterhase“, du Parkbucht. Warum weißt du das nicht? Und warum taut das Pärchen neben uns nur bei „Teenagerliebe“ auf und regt sich sonst keinen Meter? Warum legt sich die Stimmung überhaupt so auffällig bei den Songs der Alben „HELL“ und „DUNKEL“? Was ist das für’n Altersackscheiß? Warum bellt ihr „ELKE!“, als wäre dieses Stück, das Die Ärzte wegen der Verwerflichkeit des Bodyshamings seit Ewigkeiten nicht mehr spielen, der euch zustehende Höhepunkt einer Dienstleistungssause nach eurem Geschmack und Niveau? Das Lied über die adipöse Frau? Wie seid ihr drauf? Was habe ich hier zu suchen?
 
 
DIE ÄRZTE
 
 
Warum machst du nicht
Die Futterluke dicht?
 
Ich kenne Leute, die klatschen sich beim Sex ordentlich was auf den Schinken. Das darf ruhig ein bißchen zwiebeln. Why not? Vorlieben wie diese habe ich mir aus Belas „Manchmal haben Frauen…“ immer ein bißchen rausgeheimnist, weiß gar nicht, ob das statthaft war, aber so hat jeder seine eigenen Assoziationen. Die ganze Trabrennbann knödelt den Refrain, har, har. Wieviele Ballermannbrains knödeln mit? „Ab 200 kommen die Arschlöcher“ ist ein Satz, an den ich glaube, und meine Abneigung vermählt sich unheilvoll mit Belas Dicklichkeit. Herrenwitzängste, Vertrauensverlust und Reizüberflutung von innen und außen.
 
 
DIE ÄRZTE
 
 
Du hast Dich doch früher so für Tiere interessiert, wäre das nichts für dich?
 
 
Ein eigener Schlachthof.
 
Am Ende sind es fast nur die Liebes-, Sehnsuchts- und Schmerzenslieder, bei denen ich mit allem halbwegs im Reinen bin: Mach die Augen zu, Wie es geht, Himmelblau, 1/2 Lovesong.
 
 
DIE ÄRZTE

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