DRITTE WAHL auf dem STRANDKORB OPEN AIR / 23.07.2021 – Hamburg, Cruisegate Hamburg, Pier Steinwerder

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DRITTE WAHL höre ich seit Mitte der Neunziger sehr gern und finde, dass man sie als eine der besten deutschen Punkbands bezeichnen kann. Gerade weil sie auch textlich immer den richtigen Ton treffen und nie peinlich oder platt rüberkommen. Die letzten beiden Scheiben „10“ und „3D“ zeigen die Band in Höchstform, die liegen für mich auf Augenhöhe mit den Klassikern „Nimm drei“, „Halt mich fest“ und „Fortschritt“. Und da ich DRITTE WAHL irgendwie jahrelang nicht mehr live gesehen habe (laut DreMu-Datenbank tatsächlich zum letzten Mal 2011 auf dem Rd-Rock), hatte ich jetzt richtig Bock, neuere Songs wie „Scotty“, „25 Cent“, „Der Himmel über uns“ oder „Zusammen“ live zu genießen. Aber ob sie die auch spielen würden? Und wie kommt das wohl rüber auf so einem „Strandkorb Open Air“ mit Hygiene-Auflagen? Kann ja potentiell auch völlig in die Hose gehen, so hat Helge Schneider dieser Tage wohl ein Konzert unter ganz ähnlichen Bedingungen genervt abgebrochen, weil ihm die Reaktionen des Publikums fehlten. Einige Dinge mache ich jedenfalls heute zum ersten Mal und hätte sie noch vor wenigen Jahren als reine Science Fiction angesehen…

 

DRITTE WAHL

Bilder von MJ

 

Erst mal müssen wir aber überhaupt ankommen. Boah, eins hab ich während der Lockdown-Phasen nicht vermisst – den Stau vorm fucking Elbtunnel! Aber da müssen wir wortwörtlich durch, immer weiter geht’s, an der Speicherstadt vorbei, bis uns das Navi zum Pier Steinwerder lotst. Die Bühne steht mit dem Rücken zum Wasser, hinter uns liegen fette Containerschiffe samt Kränen. Eine herrlich maritime Kulisse, passend für ‘ne Band aus Rostock. Man konnte sich vorab für 10,- Euro ein Parkticket holen, dessen QR-Code uns die entsprechende Schranke öffnet. Klappt soweit alles super. Nur ein Detail hatte ich offenbar nicht beachtet: „Habt ihr euch Getränke im Internet bestellt?“, fragt Jan. Getränke im Internet? Tatsächlich stellt sich heraus, dass es auf dem Gelände keine Tresen gibt und dass neben jedem Strandkorb eine Kühlbox steht, die befüllt auf ihre Besitzer:innen wartet. Wenn… man vorher etwas bestellt hat!

 

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Größere Sorgen bereitet mir aber die Tatsache, dass auf der Bühne bereits ein Typ steht, der die Menge offenbar zu animieren sucht. Ich drängle zur Eile, denn wer kommt nach dem Ansager? Richtig: die Band! Und das saupünktlich, Punkt 20:00 Uhr donnert „Der Himmel über uns“ aus den Boxen. Geil, gleich einer meiner Faves von der „10“! Das Stück stellt für mich eine Ausnahme dar, denn Songs übers Feiern sind ja meist eher nervig, was hier aber durch die originellen Metaphern elegant vermieden wird. Fistbangenderweise wühlen wir uns zu unserem Strandkorb durch. Die Meute kocht, es ist ausverkauft. Wichtiges Detail: Man "muss" nicht sitzen, sondern darf durchaus vor seinem Strandkorb stehen (und, wenn man will, auf- und abhüpfen oder so). Ich frage einen Ordner, wie man an Getränke komme. Die könne man auf einer entsprechenden Homepage ordern und dann werde ein:e Mitarbeiter:in sie fix bringen. Ist echt so: Zum Glück besitzt MJ ein Smartphone und ich nutze Paypal. Kurz angeklickt, gelöhnt und fünf Minuten später kommt eine Frau mit ‘nem Beutel voller Bier. Ist das nicht Science Fiction? Wird hoffentlich nicht die Norm. Aber es hat funktioniert.

 

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Seltsam ist natürlich die extrem hohe Bühne und die Tatsache, dass wir von den ca. 1000 Besucher:innen kaum etwas sehen, meist nur Köpfe und hochgereckte Arme. Man ist also ziemlich voneinander isoliert, aber das kennen wir von anderen Konzerten unter Pandemie-Bedingungen. Die Leute lassen sich deswegen nicht die Laune verderben und singen um so lauter mit. Gunnar Schröder gelingt es super, die Kluft zum Mob zu ignorieren und mit herrlichen Ansagen die seltsame Situation zu entspannen. Der Kerl ist eh ein guter Beobachter und fasst seine Gedanken ansprechend in Worte. Einen neuen Song namens „Ali Baba“ sagt er zum Beispiel mit den Worten an: „Ich habe früher das Märchen ‘Ali Baba‘ vorgelesen bekommen und lese es jetzt auch meinen eigenen Kindern vor. Aber neulich stutzte ich beim Ende. Da heißt es: ‘Dann lebte Ali Baba glücklich weiter und war immer gut zu seinen Sklaven‘… Ja, was hat er denn wohl gemacht? Mindestlohn gezahlt? Hartz IV? Der Ali Baba war auch nur ein Arsch wie die Schröders und Fischers dieser Welt.“ Wie gut ist bitte die Idee, dieses Märchen mit Kapitalismuskritik zu verbinden! Und der Song ist dann auch entsprechend umgesetzt, mit „orientalischen“ Melodien und einem Killer-Refrain. Ich bin sehr angetan von der Songauswahl, denn neben zu erwarteten (und erhofften) Klassikern wie „Auge um Auge“, „Halt mich fest“ oder „Greif ein!“ kommen auch die eingangs erwähnten neuen Stücke zum Zuge. Von den beiden letzten Alben darf man sich u.a. über „Runde um Runde“ (funktioniert live noch besser als gedacht), „25 Cent“, „Scotty“ (Hammer!), „Ikarus“ (samt Ansage zur Situation um Assange), „Was zur Hölle“ und „Zum Licht empor“ freuen. Insgesamt gibt’s zwei Stunden DRITTE WAHL auf die Glocke. Die Band wirkt sehr spielfreudig und motiviert, gönnt sich auch einen herrlichen IRON-MAIDEN-Moment, als mitten in „Auge um Auge“ Griegs „In der Halle des Bergkönigs“ gespielt wird, Gunnar, Stefan und Holger sich nebeneinander auf ein Podest stellen und zur Krönung von Nebelfontänen beschießen lassen. Die Ordner müssen immer mal durch die Reihen gehen und Punks ermahnen, die sich gegenseitig umpogen, aber alle bleiben freundlich und entspannt. [Edit: An anderen Ecken des Areals soll es auch überforderte Security-Mitglieder gegeben haben, höre ich.] 

 

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Insgesamt ein Konzert, das trotz der Rahmenbedingungen total begeistert, zumal der Sound hervorragend und auch amtlich drückend ausfällt (einige der Pandemieshows, die ich gesehen habe, waren sauleise)! An Stücken habe ich nur „Auf der Flucht“ vermisst, das dürfte in Zukunft gern wieder ins Set. Ich komme wieder!

 

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