José González & The String Theory / 08.10.2018 - Hamburg, Laeiszhalle HH

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Es ist ja grundsätzlich immer wieder schön, wenn sich die Gelegenheit bietet, zwischendurch mal etwas anderes auszuprobieren. Bei Konzerten ist das nicht anders. Der Auftritt von José González & The String Theory in der Hamburger Laeiszhalle passte genau in dieses Motto.

Für alle, die José González nicht kennen: Es handelt sich hier weder um einen Sohn von Uwe Ochsenknecht, noch um einen kubanischen Choreografen, der besser auf Pfennigabsätzen laufen kann als Heidi Klum. Es dreht sich hier um einen schwedischen Singer/Songwriter. Seit gut 15 Jahren solo unterwegs, außerdem Sänger der Band Junip. Seine Musik ist eher ruhig und läuft nicht unbedingt auf Parties. Die Firma Sony fand ihn so gut, dass sie seine Version von The Knifes' Song „Heartbeats“ glatt in einen TV-Werbespot einbaute. Ich persönlich wurde 2013 auf ihn aufmerksam, als er zu einem Videospiel einen wahnsinnig guten, atmosphärischen Soundtrack ablieferte.

Auf dieser Tour hatte er das Göteborger Orchester The String Theory dabei. Also nicht nur er mit Gitarre, sondern so richtig mit Wumms. Kann eigentlich nur gut werden. Lass da mal hin!


Wir bekommen im Vorverkauf nur noch Restkarten. Alle sind einzeln im ganzen Saal verteilt, auf den Karten steht „teilweise sichtbehindert“. Trotzdem je stolze 36€ für Anna, Max und mich. Elly und Schrammi haben mehr Glück. Oder sich einfach früher gekümmert, die Streber. Jedenfalls sitzen sie nebeneinander und nicht „sichtbehindert“ vor der Bühne, zahlen aber auch je knapp 60€.

Die Hinfahrt findet in einem Opel Astra Kombi statt. Ich fahre. Am Armaturenbrett leuchten konstant mehrere Signal- und Warnleuchten. Darüber müsse ich mir als Fahrer aber keine Sorgen machen, belehrt mich die stolze Besitzerin auf dem Beifahrersitz. Die eine Lampe da unten links habe schon geleuchtet, als sie das Auto bekommen hat. Na gut, so scheint ja alles seine Ordnung zu haben. Den Rest der Hinfahrt verbringen wir u.a. mit der Bearbeitung der These, ob José González, wenn er denn ein Punker wäre, wohl den Punkernamen „Rotze González“ bekommen würde. Ergebnis: Ja.


Als wir vor der Laeiszhalle eintreffen, wird uns endgültig klar, dass wir vollkommen unbekanntes Terrain betreten. Dass es sich bei diesem Konzerthaus weniger um einen mit Aufklebern zugepflasterten Raucherschuppen als eine Kulisse aus einem Sissi-Film handelt, hatte uns ja schon Google verraten. Doch beim Betreten des Gebäudes fühlen wir uns fremd, fehl am Platz. Das Publikum besteht vor allem aus Perlenketten, Hornbrillen, Dutts und anderen Hochsteck-Frisuren, meterlangen Schals und in die Hose gesteckten Hemden. Dazu mehrere ältere Herrschaften, gekleidet wie auf dem Weg zum bevorstehenden Kamingespräch. Und alles wirkt übertrieben sauber, blinkend und irgendwie adelig.


Wir widerstehen erfolgreich dem Drang, dem Teppich zuliebe unsere Schuhe auszuziehen, suchen und finden die Bar. Dort erwarten uns eine Lounge im Seebar-Düsterbrook-Charakter und abschätzige Blicke von Gästen wie auch von den MitarbeiterInnen in den Pinguin-Kostümen. Diese nehmen uns 4,50 € pro Bier ab und üben an uns ihr falschestes Lächeln. Immer mehr fühlen wir uns wie Fremdkörper, und es steigt das Bedürfnis, sich wenigstens ein bisschen daneben zu benehmen. Folgerichtig entstehen Fotos in „Russenhocke“ vor einer Tschaikowsky-Büste, und noch folgerichtiger baden wir in den verachtenden Blicke der übrigen Anwesenden.


Auf der Suche nach einem Klo wissen wir nach ca. fünf Metern schon nicht mehr, wohin. Ein beanzugter Mitarbeiter in glanzgewichsten Schuhen erklärt uns in geschwollenem Deutsch, wo wir denn die „Toilettenzimmer“ finden würden. Wahnsinn. Das wird ja immer interessanter. Wir sind noch nicht mal drei Meter weiter gekommen, da nölt eine ältere Perlenketten-Dame ihrem Begleiter angewidert zu: „ Die Leude sehn hier alle aus, als ob die aus Pinneberch komm!“ Wer dies als Kompliment auffasst, verkennt die Sachlage stramm. Was für eine herzliche und ungezwungene Atmosphäre hier doch verbreitet wird.

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Kurz vor Beginn des Konzertes trennt sich die Schar, um ihre Einzelplätze aufzusuchen. Ich beschließe noch kurzfristig, meine Jacke abzugeben, zahle an der Garderobe 1,50 € und erhalte anstelle eines Garderobenzettels eine runde, handtellergroße, goldig schimmernde, mit eingravierter Nummer versehene Metallplakette, die sich auch sehr gut um den Hals von SiegerInnen der Bundesjugendspiele gemacht hätte. Kurz quält mich die Frage, ob diese Plakette mehr wert sein könnte als meine Jacke.


Ich treffe auf meinem Platz ein. 1. Rang links, Loge 8, Reihe 4, Platz 10. Also erster Balkon, letzte Reihe links. Schnell wird mir klar, dass es sich bei der Bezeichnung „teilweise sichtbehindert“ um eine freche Verharmlosung handelt. Man sieht im besten Fall 30% der Bühne, der Rest ist nur noch Balkon und Hinterköpfe. Außerdem ist die Beinfreiheit nicht unbedingt für Leute mit einer Körpergröße über 1,80 m geeignet. Ich beschließe, einfach aufzustehen und mich an die Wand hinter mir zu lehnen. So kriege ich immerhin 60% von der Bühne zu sehen, und Thrombose-Strümpfe werde ich nach heute abend auch nicht brauchen.

Ich bekomme mit, wie eine Platzanweiserin einem Gast klarmacht, dass man doch bitte nur in den Applaus-Pausen den Saal verlassen soll, damit die anderen Gäste sich nicht gestört fühlen. Schrammi schreibt mir eine SMS, er hätte Fynn Kliemann gesehen. Ich will gerade antworten, dass ich nicht die leiseste Ahnung habe, wer das sein soll, als plötzlich das Licht ausgeht.


Pünktlich um 20:00 geht das Konzert los. Es beginnt mit „Far Away“. Mit Unterstützung des Orchesters ist das nochmal eine ganz andere Dimension. Der Sound ist wahnsinnig gut. Zumindest, wenn man wie ich einfach neben meinem Sitzplatz an der Wand steht.

Da ich nicht die ganze Bühne sehen kann, muss ich schätzen, dass ca. 20 Leute an dem Konzert beteiligt sind. Ich sehe Violinen, Celli, eine E-Gitarre, einen etwas übermotivierten Dirigenten, zwei Background-Sängerinnen und eine vierköpfige Percussion-Abteilung. Den Rest kann ich leider nur hören. Fanfaren, Trompeten und Flöten sind hier und da rauszuhören. Auch unseren Schmuse-Punker „Rotze González“ kann ich nur sehen, wenn ich mir fast den Hals verrenke. Sehr schade, aber nicht zu ändern. Dann eben mehr aufs Zuhören konzentrieren. Sowas wie ne Lasershow gibt’s eh nicht, wir sind hier ja nicht bei MUSE.


Im Laufe der nächsten Songs fällt auf, dass die Musiker auch gerne mal zu eher unkonventionellen Mitteln greifen. Es wird hier und da mal aufs Wellblech gehämmert, zwischendurch schmeißt der Dirigent sogar mal seine Schleifmaschine an. Teilweise kommt es mir vor, als könnte man mit all dem Equipment auf der Bühne einen kompletten Film nachsynchronisieren. Das Ganze kommt mir ohnehin vor wie richtig gute Filmmusik. Da passt alles zusammen, ist alles abwechslungsreich und gleichzeitig atmosphärisch dicht und einfach nur beeindruckend. Mehrmals läuft es mir eiskalt den Rücken herunter und macht mir bewusst, auf was für einem großartigen Konzert ich mich befinde.

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Da ich vom Geschehen auf der Bühne eh nicht viel mitbekomme, fange ich irgendwann an, mich mal umzuschauen, mit wem ich denn da so rumstehe. Rechts von mir steht ein Typ, der immer wieder auffällig unauffällig auf das Aufnahmegerät in seiner Hemdtasche linst. Ein äußerst witziger Anblick.

Links von mir hat sich ein Pärchen erhoben. Beide schätzungsweise Mitte 30. Sie steht die ganze Zeit mit verschränkten Armen dort und wackelt beinahe im Takt der Musik mit dem Kopf. Er steht die ganze Zeit hinter ihr und streichelt ihr Schultern und Oberarme. Dabei starrt er sie die ganze Zeit an, als ob er dafür eine romantische Reaktion erwartet. Kriegt er aber nicht. Sie wackelt weiter mit dem Kopf, als hätte sie Wasser im Ohr, und würdigt ihn keines Blickes. Daraufhin steckt er seine Nase in ihre Hochsteck-Frisur wie ein Labrador-Welpe, der hinter Frauchens Ohr ein leckeres Stück Pansen vermutet. An dieser Stelle wende ich mich ab und versuche, mich wieder auf die Musik zu konzentrieren.

Doch das ist gar nicht so einfach, wenn lediglich die Hälfte deines Blickfeldes die Bühne ist und der Rest an Vernachlässigung von Haustieren erinnert.


Im Laufe des Konzerts werden auch die übrigen Gäste immer verhaltensauffälliger. Gab es am Anfang noch enthusiastischen, aber gemäßigten Applaus, werden nun die „WHOOOOO!“-Schreie zunehmend hysterischer. Nach ca. 90 Minuten ist das hauptsächliche Konzert vorbei, und die Stimmung erinnert mittlerweile an eine Sekte, die jeden Moment das UFO der Erlösung erwartet.

Zu Beginn der Zugabe springen alle auf und versuchen, mitzuklatschen und mitzutanzen. Um mich herum sind mittlerweile auch die Letzten aufgestanden und bewegen sich hüftsteif und ungelenk zur Musik. Ich muss plötzlich an Kinder denken, die Bäume im Wind nachahmen. Und so stehe ich in diesem Fangorn-Wald der Gicht-Versehrten und beobachte, wie diese Veranstaltung immer unerträglicher wird. Die UFO-Sekte gerät völlig außer Kontrolle, die Entkörperlichung der Jünger nimmt bedrohliche Ausmaße an. Einige trommeln wie die Bekloppten auf die Sitzpolster vor sich ein. Von einem anfangs atmosphärischen Konzert ist nichts mehr übrig.

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Nach knapp zwei Stunden ist das „Gonzáleztown-Massaker“ vorbei. GOTT SEI DANK!!! Stinksauer flüchten wir aus der Halle und nehmen uns Zeit, uns auf dem Vorplatz erstmal gründlich auszukotzen. Schrammi spricht von einem „schrecklichen, religiösen Massenerweckungserlebnis“. Auch die anderen waren vom Publikum einfach nur angewidert. Ich bin fast froh, dass es mir nicht allein so ging. Trotzdem sehr schade, dass wir alle so zwiegespalten dort herausgekommen sind. Großartiges Konzert von einem sehr guten Künstler mit einem grandiosen Orchester. Und dann so ein Publikum, das eher zum Fremdschämen als zum Mitmachen animiert hat. Aber wir sind uns einig, dass – wenn wir mal das Publikum ausblenden – es ein grandioses Konzert war.


Auf der Rückfahrt wird zunächst noch etwas weitergeschimpft, doch dann wechseln die Gespräche wieder zu den Themen, die WIRKLICH wichtig sind, z.B.: Wie würde Schrammi wohl heißen, wenn er einen Bösewicht in einem Barbarenfilm mit Arnold Schwarzenegger spielen würde? Ergebnis: „Rotze“ kommt definitiv nicht in Frage.


PS: Danke an Anna und Schrammi für die Bilder! <3

Kommentare   

+2 #1 Philipp 2018-10-12 18:00
Großartig, ich wische mir gerade die Tränen aus den Augen.
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