PETROL GIRLS, KALK / 27.09.2018 – Kiel, Schaubude

0 Dislike0

Von der Band PETROL GIRLS hatte ich bis zum Tage dieser Veranstaltung vorher noch nie gehört. Das ist für mich aber eher ein Grund FÜR den Konzertbesuch, wobei letztendlich KALK den Ausschlag dafür geben, hinzugehen. Deren Debutalbum mag ich sehr gern, bisher konnte ich die Kieler*innen jedoch noch nicht live sehen. Und die Beschreibung von PETROL GIRLS in der Veranstaltungsinfo liest sich dann auch interessant: „»It's my body, my fucking choice!« – Talk Of Violence. Die Message ist eindeutig. Petrol Girls, die vierköpfige Riot-Hardcoreband aus London bzw. Graz haben sich nach der Sage der ›Pétroleuses‹ benannt: Frauen die bereits im 19. Jahrhundert in Paris Herrenhäuser mit selbstgebauten Molotow-Cocktails aus Milchflaschen in Brand gesetzt haben um gegen traditionelle Geschlechterrollen zu protestieren. Genau das ist der Aufhänger: sich wehren, Widerstand leisten gegen gesellschaftliche Missstände wie Rassismus und (Alltags-)Sexismus. Petrol Girls brillieren durch ihre Komplexität in Songstrukturen, Rhythmen und Harmonien. Der Einfluss von Szenehelden wie Refused, White Lung, Fugazi, RVIVR, Propagandhi, At The Drive-In oder The War On Women ist erkennbar.“


PETROL GIRLS




Wir sitzen bis kurz vor dem Konzert noch bei Murat und stellen erfreut fest, dass sich immer mehr Menschen vor der Schaubude einfinden. Die Leute begrüßen KALK (oder ?????) dann auch erwartungsvoll und lassen sich schnell von der Musik anstecken. Screamo liest man meist in Verbindung mit dem Trio, was ja irgendwie wenig bis nichts aussagt. (Sehr schön fand ich auch die Bezeichnung „Emoviolence“, die irgendwo fiel…) Irgendwie isses Punk mit Synthiegefiepe und brachialem Gebrüll von Anna, die vielen Besucher*innen von MÖRDER, CHAOSANE und/oder VANITY RUINS bekannt sein könnte. Die Texte sind (zum Teil?) auf Russisch, aber Anna erläutert immer mal wieder, worum es geht, z.B. den Kampf gegen transphobe Strukturen. Die Mischung ist auf jeden Fall hochoriginell und ich genieße den Auftritt. Und zwar so sehr, dass ich den Beginn eines Disputs im Publikum zunächst nicht mitbekomme. Eine Besucherin spricht einen Mann im Publikum (Name ist der Redaktion bekannt, nennen wir ihn einfach DF) an, auf wie er später sagt „sehr abschätzige“ Weise, ob er denn die Band gefragt habe, ob er sie fotografieren dürfe. Die Frage erscheint etwas absurd, aber die Reaktion von DF fällt derart unglücklich aus, dass der Anlass für die Auseinandersetzung später keine*n interessiert. Ausgerechnet in einer Pause fällt die laute und aggressiv wirkende Replik, die in der ganzen Schaubude zu hören ist: „Ich wurde auch nicht danach gefragt, ob mich eine Frau ansprechen darf!“ (ungefährer Wortlaut.) Gerade angesichts des situativen Rahmens – es ist schließlich nicht nur ein Konzert, sondern auch eine politische Veranstaltung, in der es um Frauenrechte, Selbstbestimmung und (s.o.) Alltagssexismus geht. Im Nachhinein hätten beide Beteiligte aus meiner Sicht besonnener agieren können und nicht derart feindselig auftreten müssen. DF sieht sich mit großer Wahrscheinlichkeit zu Unrecht in der Kritik, die Besucherin wurde aber in den Augen der meisten Anwesenden durch seine Reaktion eher bestätigt. Gar nicht so einfach, sich danach wieder auf die Band zu konzentrieren.


Wow, die PETROL GIRLS transportieren richtig viel Wut! Die Sängerin schreit die eingangs erwähnten Texte in einer Art und Weise, die sofort erkennen lässt, wie wichtig ihr die Inhalte sind. In „Survivor“ geht es um Folgen sexuellen Missbrauchs und die Wichtigkeit, nicht zu schweigen: „I'm not a victim I survived / It was my anger that kept me alive / I'm not so fragile I already broke / Can't make me shut up if I already spoke”. Sehr eindringlich auch der Song “Touch Me Again”, in welchem die Zeile “Touch me again and I’ll fucking kill you” mehrfach rausgeschrien wird. Wobei nicht der Eindruck entstehen soll, dass PETROL GIRLS reines Gebrülle seien – vielmehr gibt es auch viele melodische Elemente in den Stücken, etwa auch durch den Backinggesang der Bassistin. In Erinnerung bleiben wird das Konzert wohl vor allem durch Liepa Kuraite. Ich habe selten erlebt, dass jemand sich so klar und präzise zu den behandelten Texten und Themen äußert, bemerkenswert gerade auch deshalb, weil es hier um sehr sensible Inhalte geht. Ein neuer Release heißt „The Future Is Dark“ und zitiert damit Virgina Woolf, wobei Dunkelheit hier nicht für etwas Einschränkendes stehe, sondern für den positiven Aspekt von Unsicherheit, nämlich den daraus erwachsenden Handlungsmöglichkeiten. Dieser Besuch hat sich gelohnt!

Stern inaktivStern inaktivStern inaktivStern inaktivStern inaktiv