Kettcar / 30.11.2017 - Hamburg, Markthalle

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STEFFEN: Meine erste Full-Album-Show waren Sonic Youth, 2006 oder -7 in der Berliner Columbiahalle. Meine zweite sind Kettcar, heute Abend in der Hamburger Markthalle. Als Hüsker Dü 1987 ihr finales Album „Warehouse: Songs And Stories“ veröffentlicht hatten, spielten sie auf den Konzerten alle 20 darauf enthaltenen Stücke, und das hätte ich gern erlebt. Als ich davon las, war ich beeindruckt von diesem Selbstbewußtsein. Bis dahin hatte ich nämlich gedacht, es gäbe keinen anderen Weg als den, neues Liedgut strategisch geschickt in die Setlist zu integrieren. Da fand ich es geradezu schneidig, einfach die ganze Platte zu spielen.

MATZE: Neben The Cure und Hüsker Dü fallen mir ad hoc blink-182 ein, die im November 2003 ihr selbstbetiteltes Album bei der sogenannten „DollaBill-Tour“ in kleineren Clubs für einen Dollar Eintritt vorstellten und das Ganze 2013 zum 10jährigen Jubiläum einmalig wiederholten.

STEFFEN: Ja, Cure haben sowas auch mal gemacht, indem sie zuerst die gesamte „Pornography“, im zweiten Block dann „Disintegration“ und abschließend „Bloodflowers“ durchdeklinierten, alles an einem Abend, 3 mehr oder weniger aus ihrem Back-Katalog herausragende Werke, die Robert Smith nachträglich zur Trilogie verbrämt hatte. Marcus Wiebusch erklärt zwischen zwei Songs, dass die Band die Idee anfangs wohl etwas an den Haaren herbeigezogen fand und wissen wollte, wer denn sowas macht. Ich stelle mir vor, dass es der höchst umtriebige Grand-Hotel-Van-Cleef-Tausendsassa Rainer G. Ott war, der ihnen antwortete: „Bruce Springsteen“.

MATZE: Genau! Und Wiebusch so: „Ok, beim Boss hatten sie mich!“

STEFFEN: Springsteen ist auch so ein Fall, bei dem ich eher das generelle Anliegen und den Typen gut finde als die Musik im engeren Sinn. Das ist bei mir und Kettcar zwar alles noch ein bißchen anders konfiguriert, aber die Springsteen-Kettcar-Connection scheint mir ganz passend.

MATZE: Meine Kettcar-Phase war, ehrlich gesagt, so zwischen 2002 und 2005. Als mir verraten wurde, dass es neue Kettcar-Musik geben wird, hoffte ich sehr, dass Wiebusch die deutlich politischeren Texte des Soloalbums und aus alten ...But Alive-Zeiten einbringen würde, und zum Glück ist dies auch der Fall. Ich muss gestehen, dass mir „Zwischen den Runden“ (2012) und „Sylt“ (2014) zu befindlichkeitsfixiert waren.

STEFFEN: Ich bin selber total befindlichkeitsfixiert. Ich kann immer nur sagen, welche Gefühle eine Band in mir auslöst oder mit welchen biografischen Begebenheiten ich sie verbinde; oder welche Vorurteile ich gegen sie habe. In den 90ern wurden …But Alive bei mir total vom jeweiligen Jens-Rachut-Projekt überschattet und als Blitz-Stefan mir seinerzeit die „Du und wieviel von meinen Freunden“ unter die Nase hielt, offenbar in der festen Erwartung, das wäre was für mich, tat ich es als „Deutschrock“ ab. Uiuiui. Seit „Ich vs. wir“ kann ich das so nicht mehr stehenlassen.

MATZE: Als ich mit meiner wunderbaren Freundin Anna die Markthalle betrete, finden wir leider keinen Glühwein vor, dafür gibt es aber das obligatorische Kaltgetränk. Plötzlich erscheint Steffen neben mir am Merch, an dem die GHVC-Leute Beitzi (Matula) und Malek (American Tourists) stehen, und ich denke beim Betrachten der kolossalen Auswahl, dass immer noch ein T-Shirt mit dem typischen Wiebusch-Zitat „…UND DAS GEHT SO“ fehlt. Steffen und ich werden im Laufe des Abends mitzählen. Aber nur vor fünf Songs wird er seine markante Ansage machen.

STEFFEN: Beim „Umsonst-und-draußen“ aufer Schanze hat er das ca. 25mal gesagt. Am üppig bestückten Merchstand kaufe ich mir die Vinyl-Box-Ausgabe der „Zwischen den Runden“ (2012), die allerorten als schwächstes Kettcar-Album gilt. Immerhin beginnt sie mit „Rettung“, einem wirklich niedlichen Liebeslied, dessen zentrales Bild die Kotze ist, die er ihr aus dem Haar pult. Lese ich etwa im Klappentext eines mir noch unbekannten Buches, der Autor würde seine Figuren mit einem liebevollen Blick betrachten, schreckt mich das diskret ab, was daran liegen mag, dass ich zu diesem liebevollen Blick nicht durchgängig in der Lage bin. Weil ich meistens irgendwas zu meckern habe und zum Nachtragen neige. Andererseits ist z.B. Bille Augusts „Irgendwo in Iowa“ ein Film voller Liebe, der mich regelmäßig zu Tränen rührt. Die emotionalen Erlebnisse, die ich in den vergangenen Wochen mit dem einen oder anderen Kettcar-Song hatten, weisen eine ähnliche Heulsusenqualität auf. Wenn Hollywood will, dass ich heule, dann heule ich. Wenn Marcus Wiebusch „Sommer ´89“ singt,…aber dazu später.

MATZE: Ich schraube seit 2011 heimlich an meinen eigenen Songs und komme kaum voran, und meine persönliche Deadline (Leonard Cohen war 34 beim Release seines ersten Albums) rückt immer näher. Von daher ziehe ich den Hut für die Disziplin, die Familienvater Wiebusch vorlebt. Und solche Texte muss man erstmal schreiben:

„Der Kartoffelsalat, der schmeckt / Und da steht Thomas Helmer / Oh, nee doch nicht. Sah nur so aus [...] und ich denke, dass auf der Tanzfläche ganz schön was los ist / Aus den Boxen Guns'N’Roses / Und ob Du lachst oder weinst: Gleich gibt’s Simple Minds“

Ein kleiner Auszug aus „Beste Waffe“, einem ...But-Alive-Stück aus dem Jahr 1997. Klar, die meisten grölen die Hits aus dem Kettcar-Oevre mit: „Landungsbrücken raus“, „Balkon gegenüber“, „Balu“, „Deiche“, „48 Stunden“, „Graceland“ – Man könnte ewig so weitermachen. Leute, die affin sind für deutschen Indie-Rock, kennen diese Titel. Ich habe dennoch nie einen Hehl daraus gemacht, dass ich ...But Alive immer ein wenig mehr mochte. Vielleicht auch, weil ich u.a. durch diese Band auf die Pfade gelenkt wurde, die später mein Leben widerspiegeln sollten. Das habe ich Marcus, glaube ich, noch nie so gesagt. Wenn er das hier liest: Danke, Marcus!

Und jetzt mal rein in die volle Markthalle, deren Ambiente ich immer geschätzt habe. Bereits die Supportband Torpus & The Art Directors darf sich am gehorsamen Publikum erfreuen. Nur ein kleiner Teil der Leute bevorzugt den Smalltalk im Foyer, und so kann die Band, die ursprünglich aus Nordfriesland kommt und seit einigen Jahren als Hamburger Kapelle firmiert, sich 45 Minuten austoben und neben älteren Stücken auch neues Material präsentieren, das auf dem Mitte Dezember erscheinenden neuen Album „We Both Need To Accept That I Have Changed“ zu finden sein wird. Außerdem verteilt die heute zum Quartett geschrumpfte Band (das fünfte Mitglied verweilt im Dänemark-Urlaub, wie ich später erfahre.) „Gutscheine“ am Merch; also kleine Kärtchen mit denen man sich vorab drei neue Songs gratis herunterladen kann. Ich finde den Auftritt von Sönke, Ove, Jenny und Felix etwas besser als Steffen.




STEFFEN: Englisch singende Nordfriesländer, die amerikanisch geprägten Folkrock spielen, nuja, das wäre schon als Klappentext-Info nicht meine Tasse Tee. Dem Sänger steht die Gibson J-45 zwar gut, seine trunken jauchzende Attitüde erscheint mir trotzdem etwas gekünstelt. „Epigonen“, denke ich und komme mir angesichts des warmen Willkommens, das die Crowd ihnen entgegenbringt, bald sehr hartherzig vor. Ist das schon das Kettcar-Syndrom? Immerhin erkenne ich, dass die Akteure allesamt ausgemachte Sympath_innen sind. Das mit dem „gehorsamen Publikum“ habe ich anders erlebt: Wer nicht im Foyer smalltalkt, tut das anscheinend in der Halle, und das kann man während eines sparsam instrumentierten, zärtlichen Lovesongs peinlich laut vernehmen. Werde ich nie verstehen, wie man es schaffen kann und was daran nützlich sein soll, ein ganzes Konzert mit Gesabbel dichtzudröhnen. Bzw. mit Sabbeln anzufangen, sobald eigentlich Zuhören gefordert ist. Und wer in der Markthalle Kettcar supporten kann aber stattdessen lieber in Dänemark Urlaub macht, gehört meines Erachtens sofort aus der Band geworfen.

MATZE: Für Hamburger Verhältnisse war das Publikum schon ziemlich wohlwollend einer Supportband gegenüber. Wieauchimmer! Zwei, drei schnelle Kippen, und dann kommen Kettcar auch schon auf die Bühne. Jetzt also „Ich vs. wir“ einmal von Anfang bis Ende. Doch sie beginnen wie ich es bereits erahnte mit „Balkon gegenüber“, einem Klassiker. Mit „Graceland“ und dem Emo-Block („Rettung“ und „48 Stunden“) frühstücken sie erstmal alte Hits ab.

STEFFEN: Dann leitet Wiebusch betont understated zu „Ich vs. wir“ über, und sie spielen „Ankunftshalle“. „…Weil die Menschen überhaupt keinen Sinn ergaben…“, und wie oft geht einem das so, oder? Mal unabhängig davon, dass die eigene Persönlichkeitsklatsche den Blick auf die Artgenossen nahezu täglich subtil anders kalibriert. Aber wenn man ihnen in anonymen Szenarios begegnet, glaubt man manchmal kaum, dass sie, zumindest die meisten von ihnen, Liebe in sich tragen. Und manchmal tun sie Dinge, die die Liebe in ihnen zum Vorschein kommen läßt. Insofern ist das Bild von diesen zwei Menschen, die sich mit Magnum Mandel und Cola-Eis auf einer Bank im Wiedersehensbereich eines Flughafens gezielt den Glauben an das Gute im Menschen zurückholen, wenigstens für eine kurze Weile, eine Aufforderung, „den Leuten“ eine Chance zu geben, ihnen unvoreingenommen zu begegnen, vielleicht sogar wohlwollend. Solch einen Appell, und das schrieb Matze ja weiter oben schon, muß man erstmal formuliert bekommen. Viel später, in der Anmoderation zum letzten Stück des Albums, „Den Revolver entsichern“, erinnern sich Reimer Bustorff und Marcus Wiebusch daran, dass sie den Song geschrieben hätten, um auch mal was Positives, was Hoffnungsvolles in die Welt zu tragen. Ich persönlich finde „Ankunftshalle“ mindestens genauso positiv, manchmal sogar so positiv, daß ich einwenden möchte: „Jungs, Ihr vergeßt, daß das alles Egoschweine sind.“

Tun sie natürlich nicht. „Wagenburg“ gerät zum ersten crowdpleasenden Höhepunkt dieses Konzertes, das nichts Anderes sein kann als eine Heldenfeier mit Ansage, in dieser Stadt, mit dieser Band. Schon eigentümlich: Die Geschichte, die das darauffolgende „Benzin und Kartoffelchips“ erzählt, mag ähnlich unwahrhaftig und konstruiert sein wie die Geschichten, die der Boss oder The Hold Steady (deren „Stay Positive“ genau die Rauhbauzigkeit hat, die mir bei Kettcar in musikalischer Hinsicht manchmal fehlt) erzählen, aber den Refrain kriege ich nicht mitgesungen, weil mir die Stimme erstirbt. Wo kommt das her?

MATZE: Du solltest wieder anfangen zu rauchen. The Hold Steady sind übrigens eine Band, die Wiebusch und ich beide sehr schätzen. Genauso wie Paul Westerberg und seine Replacements. Vor „Ankunftshalle“ zunächst alte Songs zu spielen empfinde ich als Kompromiss zwischen Band und Management und als gelungenen Überraschungseffekt. Wohlwissend, dass nur das neue Album zu spielen vielleicht ein wenig zu viel Zumutung für das Publikum wäre, das größtenteils aus semirevolutionären Mittvierzigern besteht. Ich teile deinen „crowdpleasenden Höhepunkt“. Ein Song für all die Vollidioten, die von Wiebusch 2014 zum Teil schon in „Der Tag wird kommen“ besungen wurden. Sie bilden nun die "Wagenburg":

Ein Wir ist Volk, Nation, Gesinnung / Ist Gang, ist Mob und hängt Verräter / Ein Wir will öffentlichen Raum / Ein Ich will seinen Teil vom Kuchen / Überall besorgte Bürger, die besorgte Bürger suchen.“

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Es sind eigentlich immer Marcus Wiebusch und Reimer Bustorff, die sich mit dem Publikum unterhalten. Was eigentlich schade ist, denn die anderen drei sind auch sympathische Genossen. Besonders mit Lars Wiebusch (Keys) kann man gut eine rauchen und schnacken. Bei dem Spiegel-TV-Bernd-Knauer-Nachruf dachte ich letztens noch, wie ähnlich sich die beiden optisch sind. Egal! Reimer Bustorff bringt ein, zwei Anekdoten hinsichtlich der Idee der Albumshows. Dass man sich zunächst nicht sicher gewesen sei, ob das eine gute Idee sei. Reimer erinnert sich an ein Eagle Eye Cherry-Konzert, wo dem schwedischen Künstler aus dem Publikum der Satz „Spiel‘ deine Single, und geh von der Bühne!“ zugerufen wurde.

STEFFEN: Und dann „Sommer ´89“.

MATZE: Und einer schreit „SPIEL´ DEINE SINGLE, UND GEH VON DER BÜHNE!“

STEFFEN: Perfekter Moment.

https://www.instagram.com/p/BcJ5q7sHf-8/?taken-by=matzesplattenkiste

MATZE: Der Hit der Platte. Vollkommen zu Recht als Song des Jahres beim Hamburger Musikpreis „Hans“ nominiert. Großartiges Video auch, Wiebusch hat das Drehbuch gemacht. Der Song sticht heraus und verpasst mir eine Gänsehaut, die ich schon bei „Der Tag wird kommen“ hatte. Nur finde ich „Der Tag wird kommen“ insgesamt einen Tick besser, habe ich Wiebusch auch so gesagt. Ehrlichkeit siegt immer, gerade in Städten mit Häfen wo die Menschen noch Hoffnung haben.

STEFFEN: Als ich diesen Song zum ersten Mal an hatte, gewann ich für einen kurzen Moment den Glauben zurück, dass Musik Menschen verändern kann. Und mir ist schon klar, dass dieser Glaube eine Illusion ist, immer gewesen ist, und dass auch Kettcar zu 99% mit Gleichgesinnten kommunizieren. Trotzdem materialisiert sich in meiner Phantasie beim Hören dieses Stücks immer wieder die Vorstellung, wie Helene Fischer in ihrer ganzen paillettenbeglänzten Zahnärztinnen-LED-Aura dynamisch auf die Bühne sprintet und verkündet, dass Rassismus einfach scheiße ist und alle Fremdenhasser sich von ihr aus auch schnurstracks verpissen können aus der O²-World oder wo immer sie gerade gastiert. Völlig abstruse Vision, geh zurück in dein Paralleluniversum! Ich habe eigenartige Deutungen dieses Songs gelesen und hatte manchmal das unterschwellige Gefühl, die kritischen Geister hätten am liebsten „Gutmenschenmusik“ gesagt, aber das G-Wort ist ja von der dunklen Seite der Macht besetzt und verbietet sich daher. Humanismus ist nicht relativierbar, dieser Song funktioniert auch ohne Video wie ein guter Film, und ich sage ein weiteres Mal: Muß man erstmal hinkriegen.



Danach wird es mit „Die Straßen unseres Viertels“ familienpolitischer: „…Unsere Patisserie und das Wein-Depot sind nichts für Schwächlinge.“ Yeah, die vorweihnachtlichen Hightech-Lichterketten, mit denen sie in der Siedlung, die ich bewohne, ihre Beistell-Immobilien (aka Carports) umfrieden, die sind auch nichts für Schwächlinge. Mittelstandsproblemcamp. Die Gedanken, die ich mir seit Jahren über meinen eigenes Wohnmilieu mache, inklusive der halbernst gemeinten Wegzieh-Idee, finde ich hier in schanzengeviertelter Form wieder, und selten dürfte mir eine Band hinsichtlich des Lebensentwurfes ihrer Mitglieder näher gewesen sein als Kettcar. Ist das geil? Ich weiß es nicht. Der Song beunruhigt mich wohlig, und ich kann den Unruheherd nicht lokalisieren. Auch eine Art der Berührung. Matze Koch mag die gehauchten „Naanaa-Naananananana“-Chöre nicht, für mich sind sie womöglich das musikalische Epizentrum meines Unwohlseins. Die Stimmen, die die Unruhe beschwichtigen wollen.

MATZE: Der Song holt Familienväter wie dich wahrscheinlich eher ab als so „Jungspunde“ (sachte Ingo Scheel letztens zu mir) wie mich, die mehr mit der Gitarre spielen als mit dem Nachwuchs. Dann doch lieber die folgenden Songs: „Auf den billigen Plätzen“ („Das Beste ist immer der Feind ist gut“), „Trostbrücke Süd“ und „Mannschaftsaufstellung“. Wobei gerade letztgenannter mich an Götz Widmann erinnert, der bereits 2007 in seinem Song „Podolski“ das Fußballding aufgriff und einen politischen Song draus machte. Nur geht’s bei Widmann verstärkt um Migration: „Bei der WM 2006 wurden 10 von 14 Toren für Deutschland von Menschen erzielt, die nicht in Deutschland geboren sind“.

Kettcars „Das Gegenteil der Angst“ geht für mich dann etwas unter, gefolgt von dem im Refrain sehr catchigen „Die Stimme eines Irren“.

STEFFEN: In „Trostbrücke Süd“ läßt Wiebusch die Protagonist_innen seiner frühmorgendlichen Omnibus-Szene am Ende auf den Sitzen stehen und gemeinsam die augenblicklich nach Verewigung brüllende Zeilen „Wenn du das Radio ausmachst / Wird die Scheißmusik auch nicht besser“ singen. Erinnert mich an „Magnolia“, einen meiner ewigen Lieblingsfilme. Im emotionalen Sturmauge dieses Films wandert die Kamera von Ort zu Ort, von Situation zu Situation, und all diese vom Schicksal gebeutelten Gestalten singen Aimee Manns „Wise Up“ mit. Da hat sich die ganze Menschelei so verdichtet, dass der Film diese beinah Brecht-mäßige Plot-Kapriole locker wegsteckt. Danach regnet es Frösche.

MATZE: Bevor die Band ihre sechs Zugaben spielt, darunter die Klassiker „Money Left To Burn“, „Deiche“ und natürlich „Landungsbrücken raus“, kommt endlich „Den Revolver entsichern“. Gerade auf diesen Song freute ich mich. Er ist mein Favorit auf „Ich vs. wir“. Wichtiger Text für all die Gutmenschen unter uns. Der Refrain „What’s so funny about peace, love and understanding?“ ist, wie Steffen mir steckt, tatsächlich nicht von Elvis Costello sondern von Nick Lowe. Schön, dass Wiebusch und Bustorff uns vorher noch mitteilen, dass ihnen dieser Song besonders am Herzen lag. „Von den verbitterten Idioten nicht verbittern lassen“ ist der Appell, und der ist wichtig in der heutigen Zeit.

„Keine einfache Lösung haben, ist keine Schwäche / Die komplexe Welt anerkennen – keine Schwäche / Und einfach mal die Fresse halten, ist keine Schwäche / Nicht zu allem eine Meinung haben – keine Schwäche“

STEFFEN: Ich danke Wiebusch auf Knien, dass er das mal festgehalten hat. Das sind ja keine von ihm erfundenen Gedanken, aber meines Wissens gab es sie bisher nicht in einem Popsong. Das Recht auf freie Meinungsäußerung legitimiert zwar, dass Alle zu Allem unqualifizierte Pferdescheiße rauströten dürfen (siehe auch dieser Artikel), aber das hältste ja manchmal im Brägen nicht aus, wie opinionhorny manche Zeitgenossen sich aufplustern, Hauptsache, sie haben auch noch was dazu gesagt.

„Ich erkläre meinen Kindern, was ein guter Mensch ist / Mit Sätzen, die heutzutage sonderbar klingen / Denk an meinen Vater, hoffe, dass ich besser bin / Nur Heu für mein Herz im täglichen Ringen“

Kann ich 1:1 so unterschreiben. Erst gestern mit einem guten und zudem noch äußerst beschlagenen Freund zusammengesessen und sich erinnert, dass wir alle mehr oder weniger von Kriegskindern bzw. –enkeln abstammen, also von Leuten, die in der überwiegenden Mehrheit das Verdrängen im wahrsten Sinne mit der Muttermilch aufgesogen haben; und dass unsere Fähigkeit zur Introspektion, unsere Reflektiertheit ein Segen und die Chance sind, die Fehler unserer Eltern nicht zu wiederholen. Unsere Kinder sollen’s mal besser haben, weil wir besser über uns selbst Bescheid wissen. Paßt das jetzt eigentlich zu dem Wiebusch-Zitat? Ich weiß es gerade nicht genau. Aber selten hatten ein paar Zeilen Songtext mehr mit meinem aktuellen Leben zu tun als diese.

MATZE: Über die Wichtigkeit der Musik und der Texte von Kettcar darf man ja diskutieren. Fehlt es ihnen an Berührungspunkten, die man aus dem Punk so gut kennt? Zeigen sie Perspektiven auf, die man nach rechts rückenden Menschen mit auf den Weg geben kann? Ja. Und genau deshalb sind Kettcar als deutschsprachige Band wichtig. Bei deutschen Kapellen heißt es ja oft: „Ab 300 kommen die Arschlöcher“. Und ein wenig ist das meiner Erfahrung nach auch so. Haben sich doch in den letzten 20 Jahren schon viele Idioten mit fragwürdigen Gesinnungen in Konzerte verlaufen, bei denen sie nicht wussten, dass die Band eher Musik für die linksorientierte Facebook-Filterblase macht, in der wir hier alle wahrscheinlich stecken. Und wenn es danach auch nur einen Idioten zum Nachdenken bewegt, dann reicht das schon. Egal, ob das Kettcar-Publikum noch auf Demos geht oder nicht.

STEFFEN: Jörkk Mechenbier sagte letztens zu mir, dass die Arschlöcher schon ab 200 kommen.

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Setliste:
  1. Balkon gegenüber
  2. Graceland
  3. Rettung
  4. 48 Stunden
  5. Ankunftshalle
  6. Wagenburg
  7. Benzin und Kartoffelchips
  8. Sommer '89 (Er schnitt Löcher in den Zaun)
  9. Die Straßen unseres Viertels
  10. Auf den billigen Plätzen
  11. Trostbrücke Süd
  12. Mannschaftsaufstellung
  13. Das Gegenteil der Angst
  14. Mit der Stimme eines Irren
  15. Den Revolver entsichern
  16. Ich danke der Academy
  17. Money Left to Burn
  18. Deiche
  19. Kein Außen mehr
  20. Landungsbrücken raus

Kommentare   

+1 #1 Ingo.K 2017-12-11 10:04
Hi, ihr beiden geilen Typen! Für mich die Konzertkritik des Jahres und Grund genug mal nachzusehen ob es noch Tickets für's MAX gibt im Januar. Vielen Dank.
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