THE GO SET / 01.06.2017 - Kiel, Schaubude

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Es ist Donnerstag. Bedrohlich erhebt sich der längere der beiden Zeiger an meiner Uhr aus seiner ehemals lotrechten Position, derweil der kleinere zwischen den Ziffern 10 und 11 verharrt. Es ist 22:40 Uhr. Wir sind im Halbdunkel der Schaubude. Totenstill ist es um uns herum. „So spät hat hier auch noch nie eine Band angefangen“, entfährt es plötzlich dem schnellsten Barkeeper Kiels. Was ist geschehen und wie konnte es so weit kommen? Sollte dies der einzige Rekord bleiben, der an diesem denkwürdigen Abend eingestellt wird?


Doch der Reihe nach…drehen wir die Uhr einfach wieder zurück.

The Go Set haben bereits 2013 in der Schaubude als Support von Total Chaos gespielt. Ich bin mir sicher, da auch anwesend gewesen zu sein, aber an den Opener kann ich mich nicht mehr erinnern. Das liegt vielleicht auch daran, dass mir Folk Punk im Allgemeinen durchaus gefällt, aber dann doch eher die Ecke mit New Model Army oder den Levellers. Mit Celtic Punk oder Bagpipe Punk kann ich eher weniger anfangen. Ich bekomme eben lieber eine gegeigt als einen gedudelt.

Obwohl The Go Set aus Australien kommen, spielen sie Celtic Punk Rock. Neben der Mandoline kommt auch eine Flöte (hier die Tin Whistle) zum Einsatz und der Dudelsack dudelt emsig vor sich hin. Vergleiche mit den Dropkick Murphys, Flogging Molly oder Flatfood 56 liegen nahe, aber The Go Set erscheinen mir erwachsener und weniger dem Zustand des Deliriums verfangen.

Um 20:55 Uhr, lächerliche 10 Minuten später als abgesprochen, erreiche ich den Platz auf der anderen Straßenseite gegenüber der Schaubude. Ein Kumpel wartet dort bereits. Nennen wir ihn einfach BB, da er wegen einer vorhandenen Krankschreibung nicht weiter auffallen möchte. Auf meine Frage, ob schon viel los ist, antwortet BB, es sei noch nicht mal geöffnet. Dies ist verwunderlich, da ansonsten der Schuppen pünktlich um 20:00 Uhr öffnet.

Inzwischen ist es 21:15 Uhr. Wir trinken Bier. Ein Lieferwagen fährt vor. Wenigstens 8 Mann steigen aus und beginnen ohne übertriebene Eile mit dem Entladen.

Um 21:30 Uhr stelle ich fest, dass es heute wohl keine Vorband geben wird.

Nun ist es 21:40 Uhr. In uns reift die Erkenntnis, dass wir trotz fortgeschrittener Stunde die bisher einzigen potentiellen Besucher sind. Daraufhin öffne ich noch ein Bier. Kurz darauf entschließen wir uns, einen Platz nahe des Eingangs einzunehmen. Womöglich beginnt der Ansturm gleich und BB hat noch kein Ticket.

Vor dem Eingang – es ist 21:45 Uhr – treffen wir auf den Inhaber/Pächter/was-auch-immer. Dieser schneidet in mühevoller Handarbeit Flyer zurecht, auf denen buntes Speiseeis abgebildet ist und welche er als Gutscheine am nächsten Tag zu verteilen gedenkt.

Nach lebhafter Diskussion einigen wir alle uns um 21:55 Uhr darauf, dass ein „Sorbet“ vermutlich immer vegan ist. Wir erfahren zudem, dass die Band zuerst keinen Van bekommen hat, obwohl dieser reserviert war. Sie sind jetzt direkt vom Flughafen nach Kiel gebrettert und haben gerade einen 30 stündigen Flug hinter sich. Ach ja, ne Vorband gibt es tatsächlich nicht.

Um 22:05 Uhr leuchtet das Schild über der Tür der Schaubude. Dies bedeutet, es darf eingetreten werden. Abendkasse wurde reduziert auf 7 Euro, im Vorverkauf habe ich 10 bezahlt. Immerhin habe ich ein Ticket zum Sammeln.

Gegen 22:10 Uhr beginnt der Soundcheck. Dieser ist heute im Preis inklusive – das entschädigt natürlich auch den Aufschlag. Ich hole mir ein Bier. Drei Gäste sind bisher anwesend – der zusätzliche ist über die Gästeliste rein gerutscht. Ich staune, wie groß die Schaubude auf einmal ist.

Der Soundcheck endet um 22:25 Uhr. Beim Verlassen der Bühne fragt der Mandolinen Spieler, ob es heute Abend einen Support gäbe.

Nach solch einer Anreise hätte ich auch einen mörderischen Durst, gestehe ich mir um 22:35 Uhr ein. Der Dudelsackspieler öffnet gerade sein zweites Bier. Auf seinem T-Shirt lese ich: Kreuzberger Nächte sind lang. Die ganze Situation erscheint mir surreal.

Wir sind im Jetzt. Die Band betritt die Bühne. Zwei weitere Besucher mache ich aus, fünf sind wir nun insgesamt. Zwei an der Bar, BB auf der Bank beim Mischpult und ich nebst einem anderen vor der Bühne. Sofort mache ich diesem klar, er dürfe mich hier nicht alleine stehen lassen. Irgendwer muss ja mitgehen und für Stimmung sorgen. Dies macht er anschließend vorbildlich.

Was nun aber kommt, war so nicht abzusehen: The Go Set spielen, als gäbe es kein morgen! Sofort gibt es nur eine Richtung: Vorwärts! Zwei Gitarristen, ein Bassist, ein Schlagzeuger und ein Mandolinen Spieler zwängen sich auf die kleine Bühne. Daneben, auf dem schmalen Pfad zu den Toiletten, harrt der Dudelsack Spieler aus und dudelt, als stünden erneut die Barbarenhorden vor den Toren Roms. Zu allem Überfluss gesellt sich zwischendurch auch noch der Tourmanager dazu und schlägt grazil das Tambourine. Dies ergibt sieben Musiker auf vier zahlende Gäste.

Doch sind wir vier ihnen zu wenig? Nein, die sympathischen Australier glänzen mit ausgelassener Spielfreude, als wären wir 4000 und als ob das Crowdsurfing eben erst begonnen hätte.

Trotz des vermeintlich kurzen Soundchecks ist die Soundqualität heute die vielleicht beste, die ich je in der Schaubude gehört habe.

Das komplette Set von 19 Songs wird durchgezogen und auch für eine Zugabe ist sich die Band nicht zu schade. Zufrieden blickt zwischendurch Sänger Justin Keanen in das Dunkel der Schaubude und flüstert: I‘ve never seen so few being such an amazing crowd. I love Kiel.

Zufrieden, mit Tränen der Freude in den Augen, machen wir uns weit nach Mitternacht auf den Weg heimwärts und ich entscheide mich auf diesem, besser direkt zur Arbeit zu gehen.

Setlist:

Drums of Chelsea
Raise a Glass
Fortune and Gold
Bordeaux
Miners Song
1788
The old dark Brown
Rolling Sound
Portland
Rising Tide
5am
Mainland
Bakery Hill
Bones
Away away
Roaring 40s
Davey
Sing me a Song
Union Man

Ein absolutes Kompliment an die Band!

Kommentare   

0 #1 qwertz 2017-06-08 10:08
Hat Spaß gemacht beim Lesen...
Danke dafür!!!
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