KIEL EXPLODE VI / 18.06.2016 – Kiel, Alte Meierei

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Als ich im Grünen Herz eintrudele, sehe ich schon das gewohnte EXPLODE-Bild: Überall lungern Grüppchen von Leuten und chillen auffer Straße vor sich hin. Ja, und das ist erfreulich und gar nicht selbstverständlich. Denn von anderen Kieler Indoor-Festivals (z.B. Klownhouse Fest oder Mosh im Mai) gab es in letzter Zeit eher negative Posts hinsichtlich Besucher_innenschwund. Woran liegt es wohl, dass dat KIEL EXPLODE immer so gut läuft? Sind es eher die Bands oder ist es das Gesamtpackage inkl. Burgerangebot, Plattenständen, veganem Deluxe-Kuchenbuffet etc.? Ich persönlich kenne meist tatsächlich kaum eine der auftretenden Bands (dieses Jahr ausschließlich JUNGBLUTH und das auch nur, weil sie vor ein paar Jahren bereits auf dem EXPLODE gezockt haben), aber ich weiß, dass ich mich darauf verlassen kann, dass mir hochwertiger Kram geboten wird. Meist verhallen Appelle nach Kommentaren ja ohne Reaktion, aber ich frag dennoch: Wie ist es bei euch? Kommt ihr zum KIEL EXPLODE, weil ihr wirklich konkret bestimmte Bands sehen wollt? Kennt ihr die Bands, die auf dem Billing stehen? Oder ist es eher der angenehme D.I.Y.-Kontrast zum sonstigen Kieler Mainstreambullshit, der gerade in DIESER Woche geballt auftritt?




Zwei Bands sind schon durch, über die ich völlig unterschiedliche Meinungen erzählt bekomme. Nach unzähligen Begrüßungsrunden (das ist ja auch so geil: JEDE_R ist am Start!) geht es dann mit CRANIAL los. Die Meierei-Anlage wird offenbar heute auf ihre Kapazitäten hin ausgelotet. Röhr und Dengel! Das kitzelt herrlich in den Ohren. Man kommt nicht um die OMEGA-MASSIF-Referenz herum, bestehen CRANIAL doch aus Ex-Bandmitgliedern der Downtempomonster, wobei sie im Gegensatz zu jenen fiesen Brüllkreischknurrgesang am Start haben. Doom, Sludge, Black Metal sind die finsteren Eckpunkte dieser unheiligen Melange aus ISIS und NEUROSIS. Da fliegen so einige Schädel im Zeitlupentakt durch die Meierei. Dynamisch, rhythmisch, zermalmend, hypnotisierend – das gefällt und so wird die CRANIAL-LP (herrliche Aufmachung!) na klar abgeerntet.


ERFURT70 bestehen aus den JUNGBLUTH-Leuten plus Extra-Sänger. Und sind gleich mal die geilste Band des Tages! (Obwohl noch so einige Kracher folgen werden.) Es ist halt so richtig herrlich straighter Hardcore/Punk der alten Schule. Sie sind heute die punkigste Band und überzeugen mit kompakten Songs, rotzig-melodiösen Vocals und lockerer Attitüde. Die Meierei kommt in Wallung, aber da ist der Auftritt auch schon rum. Hui, das waren unfähr 15 Minuten. Aber an so einem proppevollen Tag ist das vielleicht genau richtig. Es zeichnet bereits jetzt ab, dass auch dieses KIEL-EXPLODE extrem abwechslungsreich verläuft. Und wie sieht es mit der Ernte aus, fragt ihr? Negativ, denn die Münsteraner haben (noch?) keinen Tonträger am Start.


Der Sänger schnappt sich sein erstes Aftershowbierchen, der Rest von ERFURT70 mutiert zu JUNGBLUTH. Die klingen wieder völlig anders, viel heftiger, leicht crustig, dabei aber auch abgefahrener. Es ist wie gesagt die einzige Band heute, die ich schon im Vorfeld kannte und von der ich eine LP besitze. Gerade die Tatsache, dass JUNGBLUTH einen experimentelleren Ansatz verfolgen, den man im wahrsten Sinne des Wortes progressiv nennen kann, macht sie in meinen Ohren interessant. Schön unkonventionelle Songs mit hohem Lärmfaktor. Das neue Album “Lovecult” gefällt mir gar noch besser als der Vorgänger. Auf die Frage, wie viel das Biest koste, erhält mensch am Merch übrigens die Antwort, dass man soviel/sowenig geben solle, wie es einem angemessen erscheine. Find ich gut!


TOTEM SKIN – da klingt ja schon der Name vielversprechend! Und die Schweden fahren keinen Etikettenschwindel: Wer sich hier die große/grobe Kelle erhofft, bekommt in der Tat geliefert. Fieser Crust a la ALPINIST trifft auf Extrem Metal-Riffs und Blastbeats. Blackened Crust sozusagen, der seinen Weg auf bisher zwei Alben gefunden hat, “Still Waters Run Deep” und “Weltschmerz”. Das klingt insgesamt vielleicht einen Tucken zu modern, kann aber durch die reinen Nackenbrecherriffs und die Wildheit des Vortrags mitreißen. Ich find es generell ja eh supi, wenn Bands mit Hardcorebackground den Black-Metal-Misanthropen ihr Spielzeug klauen. Noch eine Entdeckung also – mein Vinylbeutel wird heute mit fast jeder Band etwas schwerer.


Runterfahren kann mensch wieder bei KOKOMO. Die Instrumental-Post-Rocker gehören zu den wenigen Bands, welche Andre und Klemsen wiederholt aufs EXPLODE geholt haben (2012 waren sie bereits dabei). Die Duisburger lassen sich Zeit, um in ihren überlangen Songs mächtige Strukturen aufzubauen. Die Dinger überschreiten gern mal die Grenze von sieben oder acht Minuten, featuren flirrende Gitarren, welche durch massiven Hall einen ganz eigentümlichen Effekt erzielen. Vielleicht bin ich als Mensch, der am Meer lebt, da etwas vorgeprägt, aber ich assoziiere mit der Musik - das Meer. Oder genauer eine gewisse Sehnsucht nach dem Meer. Zwischen all den Attacken was zum Schweben und Genießen. Für zu Hause wär mir das wohl insgesamt etwas ZU melancholisch, aber gerade jetzt kommen KOKOMO richtig gut. Kill the captain, feed the fishes!


Gespannt bin ich auf SVALBARD, welche Klemsen in seiner Plattenrezi vehement abgefeiert hatte. Ich zitiere: “Eine perfekte Mischung aus melodiösem Punk mit Elementen aus Crust, Metal, 90er Jahre Emo-HC, ein wenig Post Rock und Black Metal und der Drummer unterlegt das Ganze Gebräu sogar mit Doublebass und Blast Beats. Dazu gibt es hervorragenden zweistimmigen Mann/Frau Gesang. Die Grundausrichtung der 8 Songs ist melodiös, episch und mitreißend. Und zwar von vorne bis hinten. Ausfälle? Gibt's hier nicht.” Und der Kerl hat mal wieder Recht! Hardcore/Punk ist die Basis, was live noch deutlicher wird. Leider lassen sich zwei Typen im Pit von der aggressiven Darbietung ein wenig zu sehr mitreißen und strahlen negative Energien aus, welche die anfangs euphorische Stimmung erheblich runterziehen. Schließlich sieht sich die Sängerin sogar dazu genötigt, einzugreifen und die beiden zum Runterfahren aufzufordern. Trotzdem richtig gut!


Der x-te Burger ist verdaut und es ist kaum zu fassen: Es soll bereits schon die letzte Band zocken! Unfassbar schnell ging das EXPLODE rum – was ja nur erneut bestätigt, wie abwechslungsreich das Ding insgesamt wieder war. AMYGDALA sind zum Abschluss ganz harte Kost. Der Begriff bezeichnet einen Teil des Temporallappens im Gehirn, der für die Entstehung der Angst zuständig ist. Und die Band vertont förmlich fürchterliche Emotionen wie Verzweiflung und Leid. Vor allem der klagende Gesang geht durch Mark und Bein. Ich muss sogar sagen, dass das Leid der Sängerin so greifbar wird, dass es tatsächlich schwer zu ertragen ist. Wenn ich ihre Ansagen richtig verstehe, geht es inhaltlich auch darum, dass das erlittene Trauma einer Vergewaltigung textlich und musikalisch verarbeitet wird. “The horror of never being able to forget.” Es klingt, als ob alles Negative rausmuss und es scheint sogar, als ob auf der Bühne Tränen fließen. Heftig! So heftig, dass viele Besucher_innen danach aussagen, dass sie nicht gewusst hätten, wie sie damit umgehen sollen. Aber genau das muss Hardcore bestenfalls leisten: Den Finger auf die Wunde legen, das Unaussprechliche thematisieren. Damit hat das KIEL-EXPLODE-Team sogar Monstösitäten wie HEXIS oder PRIMITIVE MAN getoppt.


Onward to KIEL EXPLODE VII!


P.S.: Das Animal Liberation Network verkündet: "Danke auch an alle fleißigen Burger-Esser*innen: Insgesamt 815 € habt ihr mit eurem Burger-Konsum für die Hambacher Forst Besetzung sammeln können." Yummy!


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