KURHAUS, ANTITAINMENT, TACKLEBERRY / 08.09.06 - Hamburg, Rote Flora

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KURHAUS gibt es jetzt auch schon seit elf Jahren, das ist schon bemerkenswert. Und wenn irgendeine Kapelle das Wort „Change“ ernst meint, dann wohl die Ex-Bad Bramstedter. Im Hause Wolter herrscht am Freitagnachmittag kribbelige Spannung, denn erstens steht heute die Release Show ihrer neuen Platte „A Future Pornography“ an, zweitens sind TACKLEBERRY und ANTITAINMENT dabei, drittens noch in einem der besten Läden überhaupt, der Roten Flora HH, UND viertens weiß ich noch nicht, wie ich überhaupt hinkomme…

Kurhaus Alle Kieler, die ich anrufe, sind mit ihren Karren bereits voll besetzt – Mist, trampen, oder was? Aber da kommt mir der geniale Gedanke, einfach mit einer der Bands hinzufahren. Bei Hannes, der sich mit „die heißeste Nummer Kiels“ meldet, habe ich doch glatt sofort Glück. Die Hunde ham die Ruhe weg, erst um 19.00 Uhr ist Abfahrt. Mäxchen ist schon los, aber ein weiterer Kumpel hat sich eingezeckt. „Wird vielleicht eng“, sagt Hannes, ich denk mir noch, dass fünf Leute eigentlich kein Problem sind, aber dann werden uns noch Merchandise und Equipment auf den Schoß gestellt. Irgendwann frage ich Hannes, ob ihm kalt sei, denn offenbar brüllt die Bordheizung. „Ja, euch etwa nicht?“ Als auch noch der Motor heißläuft, wird’s kuschelig, leider ist es zu eng um die Arme zu bewegen und sich des Seemannpullis und der Lederjacke zu entledigen...

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Endlich sind wir da, einige Pfunde leichter. Es sind schon ein paar Leute da, ganz schön pünktlich. Ich war länger nicht hier und muss leider feststellen: Das Schanzenviertel hat an Charme verloren, alles auf chic gemacht, adrette neue Fassaden sollen Großstadtflair versprühen. Mal sehen, wann es der Flora an den Kragen geht. Überall in Hamburg Turbojugend-Spacken, die mit leeren Augen und zombiehaften Bewegungen Rollkoffer hinter sich her ziehen, um in irgendwelchen Hotels einzuchecken. Morgen ist wohl ein Turbojugendtreffen. Mehrere Horden dieser Leute mit den identischen Jäckchen (Turbojugend Bonn, Turbojugend mir doch scheißegal, wo du herkommst) ziehen auch an der Flora vorbei, ohne das Gebäude oder die Konversation betreibenden BesucherInnen eines Blickes zu würdigen. Punkrockkonzert? Interessiert uns nicht, wir wollen nur unsere Rockshow sehen.

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Fix ist aufgebaut, man wird auf dem Boden spielen. Keine Distanz zum Publikum, keine Rockstarscheiße. Mit jeder Minute kommen Bekannte, noch vor dem Beginn des TACKLEBERRY-Gigs ist das Konz ausverkauft. Leider sind einige Leute umsonst angereist. Aber noch mehr Menschen hineinzulassen, hieße allen den Genuss des Abends zu verderben und hätte wahrscheinlich eher gereizte Stimmung aufkommen lassen. TACKLEBERRY legen wie immer sehr kraftvoll los. Zack, zack, zack wird eine Watsche nach der anderen verteilt. Noch wartet das Publikum ab, aber bald kommt Bewegung in den Haufen. Kann auch keiner stillstehen, wenn man dieser Band zuguckt. Ständig springen die Tacklebettys durch die Gegend, Hannes rennt zwischen die Leute und streckt ihnen das Mikro vor die Schnauze. Hardcore!

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Hm, ich hätte die neue KURHAUS-Platte wohl nicht VOR dem Gig kaufen und vor allem in meinem Rucksack an die Wand stellen sollen, denn das schöne Teil ist nun arg ramponiert. Doch so wie die Falten im Gesicht eines seit langem geliebten Menschen an schöne vergangene Zeiten erinnern, so werden mich die Knicke im schicken Gatefold-Sleeve an diesen Abend erinnern… Nun sind ANTITAINMENT an der Reihe. Die sind sehr druckvoll, der Drummer spielt mit ganzem Körpereinsatz und man befürchtet jeden Augenblick, ihm würden gleich die Sticks brechen. Die Musik – ein wilder Mix aus Hardcore, Punk und…Orgel! Der Orgelmacker drückt mal die Tasten an einer Standorgel, mal hängt er sich eine fiese Mini-Orgel um, wie ich sie seit den frühen Tagen von NENA nicht mehr gesehen hab. Der wirklich räudige Bontempi-Sound macht mich restlos fertig. Der Sänger will noch wissen, ob es in Hamburg ein Freibad gebe: „Dann treffen wir uns morgen um 11.00 Uhr zum Wasserrutschen“. „Hippie!“, tönt es aus dem Mob. „Magst du das erläutern? Wenn Rutschen nicht Punk ist, was dann?“

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Nun also KURHAUS. Ich verbinde ja viele Erinnerungen an diese Band, waren nahezu alle Mitglieder der Band Zeuge und Teil meiner allerersten Deutschstunden, die ich als Referendar gehalten hatte! Man erzählte mir vorher, wie unpolitisch heutige SchülerInnen doch seien. Stimmt nicht, zumindest haben Jan, Hanfti, Christian und Nico das Gegenteil bewiesen (Michi war bereits abgegangen oder rausgeflogen), auch wenn Teile der Klasse genervt die Augen verdrehten, wenn Jan zu längeren Diskussionsbeiträgen einsetzte, he he. Heute sind KURHAUS aussagekräftiger denn je, ihre Musik emotionaler. Die Gitarren sind längst nicht mehr so verzerrt wie früher, alles klingt fragiler, verletzlicher und dennoch intensiv und aufwühlend. Jan hat es stimmlich nicht leicht, er klingt heute wieder etwas dünn und leise. „Gesang lauter“ wird gefordert, „Geht nicht!“, antwortet Jan. Aber ob Jan nun seine Stimme durch die vielen Auftritte permanent geschädigt hat oder einfach nur angeschlagen ist – eigentlich ist es egal, denn der Spirit ist da und solange das so ist, könnten KURHAUS auch ohne Strom spielen! Konfetti segelt durch die Luft, als es losgeht. Die neuen Songs haben es in sich, besonders berührt mich „On My Last Night In Europe“, in dem es um die Zusammenhänge von Kapitalismus und Liebesbeziehungen geht (Jan: „Solange es Kapitalismus gibt, werden Beziehungen hierarchisch sein“) und dessen von allen gesungener/geschrieener Refrain am Ende „in the name of love / this must come to an end“ bei mir Gänsehaut erzeugt. Nico und Hanfti spielen klasse Sachen auf ihren Gitarren, Feinheiten, die sich einprägen und nach dem Konzert weiter im Kopf umherschwirren werden. Ein anderer bewegender Moment ist das Stück „The Sound Of Snow“ (über den Tod, grob gesagt), vor allem am Ende, wo die gesamte Band ohne Mikros in den Saal schreit „AND I / WILL NEVER FORGET / YOU“. Einen Höhepunkt setzt „Gegen den Winter“, sozusagen das Bindeglied zwischen den beiden Platten „Refuse To Be Dead“ und „A Future Pornography“ und auf der Split-7“ mit ESCAPADO druff. Auf ganz alte Stücke mögen einige Leute vergeblich warten, ich finde es gut so, denn der Gegensatz wäre wahrscheinlich zu krass. Weiterentwicklung, kein Stillstand. Aber natürlich sind „…And beat yourself down“, „Radically change myself“, „Prority #1“ oder „Under white death“ dabei. Keine Zugaben – gut so. „Entschuldigt, wenn ich heute so viel Unsinn rede. Aber ich bin völlig verwirrt, dass heute so viele Menschen gekommen sind. Danke!“, sagt Jan und ich schließ mich mit einem „Danke“ an KURHAUS für dieses Konzert an – und auch an die netten KielerInnen, die mich dann spontan mit nach Hause zurück genommen haben. - Beitrag von: Philipp

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